Zerfall – Reform – Imperium. Europa ordnet sich neu

Sebastian Hoppe
zuletzt geändert am:

Seit der Finanzkrise 2008/2009 befindet sich Europa in einer Dauerkrise, die die Fundamente des Kontinents infrage stellt. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die bestehenden Probleme noch einmal verschärft. Drei gleichzeitige und widersprüchliche Entwicklungen zeichnen sich ab. Zum einen droht Europa der Zerfall. Befeuert von den Verwerfungen der Zeit, breiten sich europaskeptische Kräfte immer weiter aus. Denn Europas Gesellschaften sind überfordert: Wirtschaften müssen umgebaut, Finanzen neu geordnet, Migration reguliert, Energie neu gewonnen und Demokratie und Frieden gesichert werden. Eine tiefere Integration der Union können sich die wenigsten vorstellen. Demgegenüber stehen Ambitionen, der EU als demokratisches Imperium neues Leben einzuhauchen. Mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit, Erweiterung nach Osten und Hunderte Milliarden für nachhaltiges Produzieren. Formiert sich durch Druck von außen ein „geopolitischeres Europa“? Gleichzeitig vollziehen sich im Schatten von Untergangs- und Wiederauferstehungsszenarien bereits jetzt Reformen, deren Ergebnisse noch offen sind. Fest steht: Nie zuvor seit 1945 lagen die Angst vor dem Zerfall, Reformstau und das Selbstverständnis Europas als Global Player so eng beisammen. Zeit für unseren Diskurs-Hub, das europäische Projekt zu vermessen.

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Nachdenken über Europa bedeutet heute Denken in Extremen. Die Dystopie sieht in etwa so aus: In immer mehr europäischen Parlamenten breiten sich nationalistische Parteien aus, die die Abwicklung oder zumindest das „Zurechtstutzen“ der Brüsseler Institutionen zu ihrem Markenkern erklärt haben. Am Ende dieses Gedankens steht eine EU der ethnisch homogenen Nationalstaaten ohne ein gesamteuropäisches politisches Bewusstsein. All das vor dem Hintergrund, dass sich die USA als jahrzehntelanger Schutzpatron Europas verabschieden. Auf der anderen Seite findet sich die europäische Utopie: Erfordern nicht die grenzüberschreitenden Probleme der Gegenwart ein politisch-institutionelles Gebilde, das nationalstaatliche Grenzen hinter sich lässt? Die Vertiefung und Weiterentwicklung der EU erscheinen hier als politische, wirtschaftliche und, ja, auch militärische Notwendigkeit, will man nicht an den Herausforderungen der Zeit scheitern.

In 43 Texten haben wir im Kanal Umbruch | Krieg | Europa versucht, dieses Spektrum auszuleuchten – zwischen dem drohenden Zerfall der Union und dem ambitionierten Versuch, sich als modernes demokratisches Imperium zu konsolidieren. Unser Ausgangspunkt war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, dem wir bereits einen Kanal gewidmet haben, und dessen Konsequenzen für Europa. Doch schnell wurde klar, dass es nicht ausreicht, sich auf diesen Impuls zu beschränken. Denn die Auswirkungen des Krieges hängen längst mit Entwicklungen zusammen, deren Ursprünge weit vor dem 22. Februar 2022 liegen und die wir mit dem Begriff „Umbruch“ im Kanaltitel versucht haben zu greifen.

Unser Diskurs-Hub begibt sich daher auf eine Reise: von den Ängsten vor dem Untergang über bereits jetzt auf den Weg gebrachte Reformen bis hin zu Ideen, die einen nahezu revolutionären Neuanfang für das europäische Projekt bedeuten würden.

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Zerfall

Russlands Angriffskrieg hat die Koordinaten verändert, unter denen in Europa Politik gemacht wird. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock 0 brachte dies mit den Worten auf den Punkt: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“ Auf fundamentale Art und Weise wurde das Selbstverständnis der EU erschüttert. Denn sie ist nun gezwungen, die lange vernachlässigte Sicherheits- und Militärpolitik auf Vordermann zu bringen, eine neue Erzählung für sich selbst zu finden und den Modus des Regierens zu überdenken. Das führt dazu, dass alte Gewissheiten zerfallen und Raum für neue Visionen 0 entsteht.

Ein Krieg gegen Europa

    OrdnungKriegNachbarn

Am 24. Februar 2022 wurde Europa mit dem Umstand konfrontiert, dass man es mit einem anderen Russland zu tun hat, als man sich das über die vergangenen zwei Jahrzehnte eingebildet hatte. Schnell solidarisierte sich Europa 0 moralisch, völkerrechtlich und auch militärisch 0 mit der angegriffenen Ukraine und fuhr die Beziehungen zu Russland auf ein Minimum 0 herunter. Denn Wladimir Putin führt einen Feldzug gegen den, in seinen Worten, „kollektiven Westen“ 0. Also gegen die USA, die EU, westliche Institutionen und das, was im politischen Rückspiegel nur noch blass als regelbasierte, liberale Weltordnung 0 zu erkennen ist. Die wohl folgenreichste Konsequenz ist ein Zeitraffer-Abschied von der europäischen „Friedensdividende“ 0 nach 1989 und das massive Hochfahren der nationalen Verteidigungsbudgets 0. Ob daraus jedoch wirklich eine gemeinsame europäische Rüstungs- und Verteidigungspolitik 0 entsteht, ist unklar.

Die politische Debatte über Europas Sicherheitspolitik ist bisher vor allem von Ängsten geprägt: Was, wenn sich Putin in der Ukraine durchsetzt und russische Truppen an der polnischen Grenze stehen? Und wie Europas Sicherheit gewährleisten, sollten sich die USA unter einem wiedergewählten Präsidenten Donald Trump tatsächlich aus der Nato zurückziehen? Unmittelbar hat Russlands Krieg gegen die Ukraine in Europa somit vor allem eine Folge gehabt: das Ende der sicherheitspolitischen Wohlfühl-Ära 0 zwischen einer uneingeschränkt schützenden USA und einem militärisch zurückhaltenden Russland.


Gründungsmythen

    OrdnungKooperationExpansion

Der Gründergeneration der EU 0 war es ein zentrales Anliegen, die europäische Einigung als Friedensprojekt 0 zu verstehen. Nun, da sich Europa notgedrungen um die eigene Sicherheit kümmern muss, hat dieses Narrativ tiefe Risse bekommen. Der Frieden ist jedoch nur ein Teil der europäischen Meistererzählungen 0, die vom Krieg erschüttert wurden. Ein weiterer Ausspruch, der nicht mehr zu gelten scheint, ist die Durchhalteparole „Jede Krise macht die EU stärker“. In Anbetracht der Polykrise 0 unserer Zeit ist es nämlich keineswegs ausgemacht, dass auch der Schock des Krieges in einem nächsten Integrationsschritt für das europäische Projekt münden wird. Gleiches gilt für den Zustand des europäischen Binnenmarktes und die Erzählung vom „Wohlstandsprojekt“ Europa. Zwar hat es die EU seit 1989 ein gutes Stück geschafft, besagten Wohlstand nach Osteuropa zu bringen, wenn auch nicht ohne politische und soziale Verwerfungen. 0 Doch mittlerweile bedrohen neue soziale und territoriale Spaltungen den Zusammenhalt auf dem Kontinent, wie der Soziologe Martin Heidenreich im Gespräch mit te.ma 0 argumentiert. Um Krieg, Krisen und Ungleichheit zu überwinden, bedürfe es eines Umdenkens innerhalb der EU. Allerdings fällt das vielen Politikern schwer, was nicht zuletzt an einer weiteren Meistererzählung liegt: der EU als Verrechtlichungsprojekt 0. Doch allein auf rechtlicher Ebene lassen sich die Probleme der Zeit nicht mehr lösen, wie die fatalen Konsequenzen 0 des deutschen Festhaltens an der im Grundgesetz verewigten Schuldenbremse zeigen. Solange die großen Player in der EU nicht die alten Pfade verlassen, können die Probleme der Zeit nicht bearbeitet werden.

Welche neuen Erzählungen die ausgedienten Gründungsmythen ablösen werden, hängt vor allem davon ab, ob sich die europäische Politik in den kommenden Jahren bewährt. Reicht die Losung eines „geopolitischeren Europas“, das von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgegeben wurde? Der seit 2000 offizielle Slogan der EU „In Vielfalt geeint“ wird jedenfalls in Anbetracht der großen Uneinigkeit zwischen einigen Mitgliedstaaten keine große Kraft mehr entfalten können.


Ende der Technokratie

    OrdnungEuropa GlobalExpansion

Zahlreiche Beobachter befürchten, dass Europa scheitern wird 0, sollte es an der Politik der Vergangenheit festhalten. Jahrzehntelang beschränkte man sich auf den Ausbau des sog. regulatorischen Staates, einer Regierungsform, die sich vor allem auf Regeln für den gemeinsamen Binnenmarkt, nicht aber auf harte staatliche Intervention in die Wirtschaft fokussierte. Wie der Politikwissenschaftler Frank Schimmelfennig im Gespräch mit te.ma erklärt , habe der regulatorische Staat in Anbetracht neuer Krisen jedoch ausgedient. Für Kritiker der Technokratie 0 ist das wenig überraschend: Sie haben schon lange darauf hingewiesen, dass die Menschheitsprobleme der Gegenwart – Klimawandel, Ungleichheit, geopolitische Konflikte – mehr erfordern als den europäischen „Nachtwächterstaat“ 0, der sich auf die Verwaltung des Ist-Zustandes 0 beschränkt.

Das Ende der Technokratie wirft die Frage auf, in welchem Modus die EU weiter Politik betreiben will. Wird sie interventionistischer 0 – und nimmt sich dabei vielleicht noch ein Beispiel am chinesischen Staat? Orientiert sie sich eher an den USA und schüttet massive Subventionen 0 an Zukunftsbranchen aus? Oder zerbricht die EU an ihren Ambitionen und wird sowohl geopolitisch als auch wirtschaftlich von den beiden anderen großen Playern der Weltpolitik abgehängt?


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Reform

Viele Wahrheiten sind seit der Covid-Pandemie und der russischen Invasion im Februar 2022 für Europa zusammengebrochen. Was folgt daraus? In den vergangenen Jahren hat die EU ihr Verhalten den neuen Realitäten angepasst und eine Reihe von Reformen auf den Weg gebracht. Diese Änderungen in der europäischen Politik liegen oft quer zur Untergangsstimmung oder den großen Zukunftsplänen der EU-Kommission. Bereits jetzt hat sich einiges gewandelt: So überdenkt Europa seine Rolle in einer unübersichtlich werdenden globalen Ordnung. Neue, selbstbewusste Partner tauchen auf, alte fallen weg. Auch die europäischen Entscheidungsprozesse ändern sich. Unter einer global ambitionierten Kommission ist „schneller, besser, gezielter“ das Motto der Stunde. Zudem hat die EU erkannt, dass man die Zukunft nicht gestalten kann, ohne massive finanzielle Mittel zu mobilisieren. Doch folgen auch alle Mitgliedstaaten dem Reformkurs der EU?

Globale Unordnung – Neue Kooperationen?

    Europa GlobalKooperationKonflikt

Keine Großmacht allein wird das 21. Jahrhundert bestimmen können, wie es die USA noch im 20. Jahrhundert 0 in vielen Teilen der Welt vermochten. Spätestens seit ihren militärischen Interventionen im Zuge des „Krieges gegen den Terror“ und der globalen Finanzkrise 2008/2009, die in ihrem Ursprung vor allem als amerikanische Krise wahrgenommen wurde, haben die USA im sog. Globalen Süden massiv an Reputation verloren. Der Aufstieg von Mittelmächten wie der Türkei, Brasilien 0 oder Südafrika 0, die sich als Sprachrohre des sog. Globalen Südens positionieren, macht es den Großmächten USA, China und Russland zusehends schwer 0, ihre einstige globale Vormachtstellung zu behalten. Zwei Reaktionen lassen sich beobachten: Zum einen versuchen die USA und China, ihre Einflusssphären zu stabilisieren bzw. auszubauen. Zum anderen sorgen ein Revival staatlicher Neutralität und des Konzepts der „Blockfreiheit“ 0 dafür, dass sich Großmächte im Konfliktfall in ständig wechselnden Koalitionen neu arrangieren müssen. Der Wandel führt für viele Länder, die traditionell nicht zum Westen gezählt werden, zu neuen außenpolitischen Handlungsspielräumen. Das bekommt auch die EU zu spüren 0, etwa bei der Suche nach neuen Rohstoffexporteuren oder den vergeblichen Versuchen, die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas 0 zur Unterstützung der Ukraine zu bewegen.

Bereits jetzt öffnet sich die EU daher notgedrungen neuen Partnern. Die Marschrichtung: lauter Gas aus Katar und Aserbaidschan, neue Rohstoff- und Technologiedeals mit Lateinamerika und Asien 0. Dabei muss sich die Union den neuen post-kolonialen Realitäten fügen und kann nicht mehr „von oben herab“ 0 mit ihren neuen Partnern sprechen. Und auch die Beziehungen zu den Großmächten kommen auf den Prüfstand: Ja, die USA bleiben ein wichtiger politischer Verbündeter und Handelspartner, auch unter Donald Trump. Gleichzeitig versucht Brüssel, die Beziehungen so zu ordnen, dass Europa nicht bei jeder innenpolitischen Verwerfung in Washington in einen panischen Selbstfindungsmodus 0 verfällt. Dazu gehört auch das selbstbewusste Ausgestalten der Verbindungen nach China. Hier ist Pragmatismus gefragt 0, denn weder lässt sich der Handel mit dem Reich der Mitte signifikant verringern, noch kann man auf Peking bei der Lösung globaler Fragen verzichten.

Die EU muss sich also in einer neuen globalen Unordnung zurechtfinden – und das führt zu Zielkonflikten, die politisch heftig diskutiert werden. Zwischen der transatlantischen Partnerschaft und dem Aufbau einer eigenen Sicherheitspolitik. Zwischen notwendigen und stabilen Beziehungen zu China 0 und dem Einstehen für Menschenrechte und die taiwanische Demokratie. Und zwischen dem Finden neuer Rohstoff- und Sicherheitspartner und einer wertegeleiteten, demokratischen Außenpolitik 0.


Vom Improvisieren zum Entscheiden

    OrdnungKooperationNachbarn

Sowohl die globalen als auch die europäischen Herausforderungen verlangen, dass man schnell und zielgerichtet entscheidungsfähig ist. Doch für Jahrzehnte war die EU eine sog. intergouvernementale Angelegenheit 0, deren Mühlen langsam mahlten. Das Schicksal der Union war abhängig davon, worauf sich die Regierungen der Nationalstaaten einigen konnten – oft in langen Nachtsitzungen. Letztere gibt es immer noch, doch haben sich die Entscheidungsprozesse auf der europäischen Ebene mittlerweile erweitert und verkompliziert.

Historiker und Sozialwissenschaftler streiten darüber, wie diese Entwicklung zu interpretieren ist. Kritiker wie Wolfgang Streeck oder Stefan Auer 0 verweisen darauf, dass in zunehmendem Maße die Institutionen der EU selbst das Problem sind. Demokratische Willensbildung finde schließlich vor allem in den Nationalstaaten oder im Lokalen statt. Die EU hingegen stehe für Supranationalismus und maße sich immer mehr an, in die Nationalstaaten hineinzuregieren. Hinzu komme eine jahrzehntelange neoliberale Politik 0 aus Brüssel, die hauptsächlich den Eliten zugutekam und das soziale Fundament Europas 0 erodieren lassen hat. Dies habe dem europäischen Wohlfahrtsstaat massiv geschadet und den Aufstieg von Euroskeptizismus und Populismus befördert. Darüber hinaus weisen andere darauf hin, dass die Unzufriedenheit von Ländern wie Ungarn, Polen 0 oder der Slowakei mit der Brüsseler Politik dazu führe, dass sie internationale Formate jenseits der EU-Politik 0 aufbauten.

Dem gegenüber stehen Stimmen wie jene Luuk van Middelaars 0, die einen begrüßenswerten Wandel beobachten: Habe man sich früher tatsächlich noch auf technokratisches Regieren zurückziehen können, hätte das lange Krisenjahrzehnt seit 2008 Europa zum Improvisieren auf bisher unbekanntem politischem Terrain gezwungen. Die Folge seien bessere Entscheidungsprozesse und ein geschärftes Bewusstsein für die eigenen Stärken.

Ein Beispiel für schnelles europäisches Entscheiden war etwa die Aktivierung der sog. Massenzustrom-Richtlinie 0 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Sie erlaubte es Millionen Ukrainern, in Europa Schutz zu finden 0 und ihr Leben selbstbestimmt fortzuführen 0. Durch eine rasche Integration der Schutzsuchenden in den europäischen Arbeitsmarkt kann die EU bereits jetzt dazu beitragen, das Fundament für den Wiederaufbau 0 der Ukraine zu legen.


Geld für den Zusammenhalt

    OrdnungKonfliktExpansion

Wie gut oder schlecht auch immer die Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene mittlerweile aussehen, die Zukunft Europas verlangt vor allem eins: weitere Reformen und Investitionen. Insbesondere für Letztere wird es umfangreicher finanzieller Mittel bedürfen. Die EU-Kommission hat das erkannt und mit dem Europäischen Grünen Deal 0, der Strategie NextGenerationEU 0 sowie der begrenzten Möglichkeit einer gemeinsamen Schuldenaufnahme 0 zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch die Covid-Pandemie Hunderte milliardenschwere Programme auf den Weg gebracht.

Doch auch hier klaffen Anspruch und Realität noch auseinander. Der Ambition, sich an die Erfordernisse der Zeit anzupassen, stehen alte Dogmen gegenüber. Insbesondere Deutschlands Festhalten an der Schuldenbremse 0 schwächt die fiskalischen Kapazitäten der EU 0. Während die geopolitischen Mitbewerber USA und China die Maßstäbe der Zukunft setzen 0, agiert die EU nach wie vor mit angezogener Handbremse. Die Zurückhaltung bei Investitionen wird nicht nur dafür sorgen, dass die EU den Anschluss bei wichtigen Zukunftstechnologien verliert. Sie erschwert es auch, auf bisher unbekannte Formen von „grüner Ungleichheit“ in Europa zu reagieren. Studien 0 weisen bereits jetzt darauf hin, dass Europa abgehängten Regionen, die bisher von alten Industrien oder Rohstoffabbau gelebt haben, neue Möglichkeiten der Entwicklung aufzeigen muss. Ansonsten droht der grünen Transformation in Europa weiterer Widerstand.

Die Frage des Geldes, vor allem der (gemeinsamen) Verschuldung und des Ausmaßes politisch angeschobener Investitionen, ist dabei eines der großen politischen Streitthemen der Union. Hier treffen Fragen europäischer und nationaler Souveränität sowie der demokratischen Legitimität von Entscheidungen und der kollektiven Handlungsfähigkeit aufeinander. Antworten auf diese Fragen gegen den europaskeptischen Zeitgeist in den nationalen Parlamenten zu finden, ist eine europäische Jahrhundertaufgabe.


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Imperium

Es darf deshalb bezweifelt werden, dass kleinere Reformen ausreichen, um die EU nachhaltig für die Zukunft aufzustellen. Daher fordern viele, größer zu denken und das europäische Einigungsprojekt auf die nächste Stufe zu heben. Zum einen betrifft das die territoriale Ausdehnung der Union. Nach den Erweiterungsrunden 1973 (Dänemark, Irland und Vereinigtes Königreich), 1981 (Griechenland), 1986 (Portugal und Spanien), 1995 (Finnland, Österreich und Schweden), 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern) und 2007 (Bulgarien und Rumänien) wurde mit Kroatien zuletzt im Jahr 2013 ein neues Mitglied aufgenommen.

Sollte sich die EU ein weiteres Mal geographisch erweitern, wird sie dies in Richtung des postsowjetischen Raums und damit der russischen Grenze tun. Sie wird somit noch unmittelbarer mit dem russischen Militarismus in Berührung kommen. Die Frage nach einer gemeinsamen Militär- und Sicherheitspolitik der EU – ein Feld, das in der bisherigen Geschichte der europäischen Integration keine große Rolle gespielt hat – ist also unmittelbar mit den Erweiterungsplänen verbunden. Zum anderen steht zur Debatte, wie ernst die EU die von ihr angestrebte Autonomie nehmen will. Wie viel Selbständigkeit gegenüber den westlichen Partnern ist angebracht, wie viel Abhängigkeit auch von schwierigen Staaten notwendig? Sollte die EU die laufenden Reformen vorantreiben und sich darüber hinaus sowohl territorial als auch im Hinblick auf neue Politikbereiche vergrößern, könnte sie sich als „demokratisches Imperium“ 0 konsolidieren. Scheitert sie, drohen der interne Reformstau und die Dysfunktionalität von Entscheidungen auf der einen und weltpolitische Ambitionen auf der anderen Seite immer mehr auseinanderzulaufen.

Osterweiterung 2.0

    ExpansionKriegNachbarn

Russlands Feldzug in der Ukraine hat der Diskussion um eine zweite Osterweiterung der EU neuen Auftrieb 0 verliehen. Das ist insofern bemerkenswert, als die Bereitschaft zur Aufnahme neuer Mitglieder über viele Jahre an einem Tiefpunkt angekommen war. Die erste Osterweiterung 2004 war ein großer, einschneidender Schritt für die EU, der sowohl ihre Wahrnehmung in der Welt als auch ihre internen Prozesse veränderte. Denn die neuen Mitglieder fanden schnell ihre eigene politische Stimme 0 – nicht immer zur Freude des „alten Europas“. Seitdem jedoch verharren etwa die Länder des Westbalkans (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro) mit der Ausnahme von Kroatien bis heute in einem eigenartigen Zwischenzustand aus vagen Beitrittsversprechen und enttäuschten Hoffnungen 0. Nach dem Februar 2022 scheint jedoch eine neue Dynamik Einzug zu halten: Am 14. Dezember 2023 beschlossen die EU-Staaten, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau zu eröffnen. Die Geschwindigkeit, mit der die EU vor allem im Fall der Ukraine voranschreitet, ist ein Novum. Der Grund: Geopolitisch lastet ein enormer Druck auf dem östlichen Europa, die EU will schnell Tatsachen schaffen, bevor dies Russland mit seiner Armee oder andere große Player mit Geld und Infrastrukturprojekten 0 tun.

Dass die Chancen für eine Aufnahme der Ukraine tatsächlich gegeben sind, liegt auch am unnachgiebigen Einstehen der Ukrainer für den europäischen Weg ihres Landes. Seit dem sog. Euromaidan 2013/14 wollen sich große Teile der ukrainischen Bevölkerung enger an die EU binden. Dies sei wenig überraschend, so der Historiker Andrew Wilson: In der Ukraine sei eine Zivilnation entstanden 0, die sich bewusst für das demokratische Europa 0 und gegen das autoritäre Russland entschieden habe. Und auch die sechs Millionen Ukrainer, die nach der russischen Invasion 2022 das Land verlassen haben, werben seitdem noch mehr für eine EU-Mitgliedschaft ihres Heimatlandes.

Trotz der großen Fortschritte des Beitrittsprozesses in relativ kurzer Zeit gibt es nach wie vor auch Kritik an einer möglichen „Überdehnung“ 0 der EU nach Osten. So drohe eine überhastete Aufnahme geopolitisch umkämpfter Staaten die Kapazitäten der EU zu überfordern 0, warnt etwa die Forschungsdirektorin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Barbara Lippert. Im Ergebnis könnten Wohlstand und Sicherheit der EU geschwächt und nicht gestärkt werden. Dem stehen Stimmen gegenüber, die fordern, endlich mit der geopolitischen „Grauzone“ 0 Schluss zu machen, die destabilisierend auf die Länder der Östlichen Partnerschaft gewirkt habe. Beide Seiten haben einen gemeinsamen Punkt: Will die EU weitere Mitglieder aufnehmen, muss sie sich klar dazu bekennen und die entsprechenden internen Voraussetzungen schaffen.


Mehr Autonomie

    Europa GlobalKooperationKrieg

Die Debatte über die Fähigkeit der EU, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, wird vor allem unter dem Schlagwort der „strategischen Autonomie“ 0 bzw. der „strategischen Souveränität“ geführt. Nicht zuletzt hat die Covid-Pandemie der EU gezeigt, dass sie bei kritischen Produkten zu sehr auf globale Lieferketten angewiesen ist. Doch mehr Autonomie ist nicht nur bei medizinischen Produkten gefragt: Die zunehmende Gefahr von Handelskriegen 0 mit den USA und China zeigt, dass die EU gut daran tut, möglichst große Teile der Wertschöpfungsketten in Europa zu halten, vor allem durch gezielte Industrie- und Beschäftigungspolitik.

Die wohl folgenreichsten Autonomiebestrebungen betreffen jedoch die Sicherheitspolitik. Die militärische Unterstützung der Ukraine hat die enorme Abhängigkeit Europas von den USA zutage treten lassen. Sollte sich das Land unter einem erneut gewählten Präsidenten Trump tatsächlich weniger stark in Europa und der Nato engagieren, stünde die EU vor einem Scherbenhaufen. Weder verfügt sie über einen konsolidierten Rüstungssektor, der die eigenen Arsenale und jene der Ukraine bestücken könnte. Noch sind die gemeinsamen europäischen Verteidigungsbemühungen auf einem Stand, der einen sicherheitspolitischen Rückzug der USA aus Europa kompensieren könnte. Der Isolationismus der USA, die Rückkehr des Krieges vor den Toren Europas und das Bewusstsein, selbst für die eigene Sicherheit sorgen zu müssen, bergen aber auch eine Chance für die EU 0. Schafft sie es, sich das Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu erschließen, würde sie auch nach außen selbstbewusster auftreten können.


Ein demokratisches Imperium?

    OrdnungEuropa GlobalExpansion

Reformen der Entscheidungsfindung und der Wirtschaftspolitik, Aufnahme neuer Mitglieder, Aufbau einer eigenen Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeit: Gelingen der EU diese ambitionierten Jahrhundertprojekte, könnte sie zu etwas werden, das es in der Weltgeschichte noch nicht allzu oft gegeben hat – ein demokratisches Imperium 0. Sie würde sich damit in einen globalen Zeitgeist einfügen, der ein unerwartetes Revival 0 imperialer Herrschaftsansprüche erlebt. So sind die USA unter Biden trotz des Rückzugs aus Afghanistan damit beschäftigt, in der Ukraine, in Israel und im Jemen sowie nicht zuletzt in Taiwan die Reste der westlichen Weltordnung zu verteidigen. China hingegen arbeitet unter Xi Jinping an einem eigenen imperialen Projekt, was zu immer offeneren Konflikten mit dem „alten“ Hegemon USA führt. Und Wladimir Putin hat mit dem verheerenden Angriffskrieg auf die Ukraine deutlich gemacht, dass er seine Mission darin versteht, ein bereits untergegangenes Imperium wiederherzustellen.

Im Gegensatz zu diesen offen imperialen Ambitionen erscheint die EU als haderndes imperiales Gebilde 0. Ihre Ausdehnung beruht schließlich nicht auf militärischer Eroberung, sondern freiwilligem Beitritt, ihre konstitutive Regierungsform ist nicht der Autoritarismus, sondern die Demokratie. Damit verbunden ist notwendigerweise die permanente Kritik des eigenen Modells, die heute vor allem von nationalistischen und populistischen Kräften vorgebracht wird. Birgt diese Infragestellung des europäischen Projektes von innen nicht auch die Chance und den notwendigen Anschub für eine Vertiefung der Union? Sind europäische Souveränität und gelebte Demokratie tatsächlich Widersprüche, wie etwa Stefan Auer in seinem Buch behauptet? Oder lassen sich die europäischen Entscheidungsprozesse nicht auch auf neuen Wegen fit für die Weltpolitik machen, ohne bei der demokratischen Legitimität zu sparen? Die EU ist ein historisches Unikat, wenngleich mit einigen Geburtsfehlern und sichtbaren Narben. Sie ist aber zu wertvoll, um sie an ihren Widersprüchen zugrunde gehen zu lassen.