Vielfalt und Verlust – wie gestalten wir unser mehrsprachiges Leben?
Sieben Monate lang hat sich unser Kanal „Mehrsprachigkeit“ diversen linguistischen, sprachpolitischen und gesellschaftlichen Fragestellungen rund um das multilinguale Leben weltweit gewidmet: Wie mehrsprachig ist eigentlich Deutschland, welche europäischen Länder stechen hervor? Warum genießen manche Sprachen mehr Rechte und Prestige als andere? Führt Sprachvermischung zu Sprachverfall? Und leiden zweisprachig aufgewachsene Menschen tatsächlich seltener an Demenz? Der Diskurs-Hub verknüpft die unterschiedlichen Schwerpunkte und Analysen des Kanals, führt durch die wichtigsten Publikationen und bietet einen umfassenden Einstieg in das Thema.
Auf der Welt werden derzeit rund 7000 Sprachen gesprochen. Die meisten Menschen sprechen mehrere davon – verschiedene Schriftsprachen, Dialekte und Register. Mehrsprachigkeit ist gesellschaftliche Realität und Normalität. Überall auf der Welt, zu allen Epochen. Doch seit dem Anbruch der Moderne vor rund 250 Jahren steht die sprachliche Vielfalt vor ganz besonderen Herausforderungen. Mit dem aufkommenden Nationalismus in Europa ist eine Ideologie der Einsprachigkeit verbunden, die über ihren kolonialen Export auf der ganzen Welt Verbreitung fand. Noch heute werden in vielen Staaten der Erde Sprecher*innen kleinerer Minderheiten- und Regionalsprachen diskriminiert. Und auch wenn sich viele sprachliche Minderheiten heute zahlreiche Rechte erkämpft haben, so sind weltweit doch tausende von Sprachen vom Aussterben bedroht. Im Diskurs-Hub zu unserem Kanal „Mehrsprachigkeit“ zeigen wir aktuelle Debatten darüber auf, wie Gesellschaften weltweit mit ihrem vielfältigen Sprachschatz umgehen.
Ideologie
Individuelle Mehrsprachigkeit
In der Sprachwissenschaft wird die Kompetenz in mehreren Sprachen als individuelle Mehrsprachigkeit bezeichnet. Dabei denken viele zunächst an Menschen, die mehrsprachig aufgewachsen sind, etwa als Kinder binationaler Paare. Diese Sprecher*innen sind simultan bilingual – die Sprachen wurden gleichzeitig erworben. Doch auch Menschen, die erst später im Leben eine weitere Sprache gelernt haben, werden als mehrsprachig bezeichnet. Dies ist der sogenannte sukzessive oder sequentielle Bilingualismus. 00 Individuelle Mehrsprachigkeit, egal ob simultan oder sukzessive, ist auf der ganzen Welt weit verbreitet. Schätzungen gehen davon aus, dass 60 bis 75 Prozent der Weltbevölkerung mehrsprachig sind. 00 In Skandinavien und im Baltikum sind es sogar über 96 Prozent. Auch in vielen Regionen Südamerikas, Asiens oder Afrikas sprechen viele Menschen ganz selbstverständlich zwei oder drei Sprachen in ihrem Alltag 00. Diese Realität aufrechtzuerhalten ist vorwiegend die Aufgabe von Eltern, die ihre Kinder im multilingualen Umfeld handlungsfähig machen müssen. Dabei ist mehrsprachige Erziehung keine einfache Sache – vor allem nicht in einer monolingual geprägten Gesellschaft. So legt die Rom-Studie 00 von Susanne Lippert dar, dass manche Kinder die Herkunftssprache ihrer Familie nur auf einem niedrigen, nicht alltagstauglichen Niveau sprechen und verstehen können. Kaisa Pankakoski beobachtete in den mehrsprachigen Familien ihrer Fallstudie Kinder, die eine Sprache komplett verweigerten. Es gibt also keine Garantie, dass Kinder die Sprachen, die ihre Eltern sprechen, tatsächlich kompetent beherrschen (werden). Dazu bedarf es zusätzlicher Förderung, und ob und wie gut der Spracherwerb tatsächlich gelingt, ist zudem abhängig von den Begabungen und Persönlichkeiten der Kinder. Doch die Anstrengungen könnten sich lohnen: Experimente aus der Psycholinguistik und der Neurowissenschaft liefern Hinweise, dass Mehrsprachigkeit zahlreiche positive Auswirkungen auf das Gehirn mit sich bringt. Stärkt Bilingualität nicht unbedingt Sprachkompetenz an sich, so scheint sie jedoch die kognitiven Fähigkeiten zu trainieren und könnte sogar vor Demenz schützen. Die Psycholinguistin Viorica Marian 00 zeigt etwa auf, dass Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, eine höhere Erinnerungsfähigkeit, Problemlösungskompetenz und Stressresistenz an den Tag legen. Allerdings sind auch diese Ergebnisse nicht unumstritten: Eine rezente Metastudie von Gunnerud et al. 00 kritisiert, dass die deutlichsten Effekte in bestimmten Laboren und relativ kleinen Studien festgestellt wurden.
Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit
Von der individuellen Mehrsprachigkeit unterscheidet die Sprachwissenschaft die sogenannte gesellschaftliche Mehrsprachigkeit . Hier geht es mehr um soziologische bzw. soziolinguistische Fragestellungen. Die Forschung möchte verstehen, wie Menschen in mehrsprachigen Gesellschaften zusammenleben und miteinander sprechen. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist nicht erst in modernen Migrationsgesellschaften entstanden, sondern historisch gesehen seit vielen Jahrhunderten der Normalfall. Historische Forschungsarbeiten zeichnen nach, wie Minderheiten in Staaten auf der ganzen Welt um sprachliche Anerkennung 00 kämpften und immer noch kämpfen — und umgekehrt Staaten mit unterschiedlichen Sprachpolitiken darauf reagieren 00. Andere Arbeiten untersuchen Mehrsprachigkeit auf mikrosoziologischer und -linguistischer Ebene. Sie zeichnen etwa kleine Veränderungen in der Sprache nach, die durch Sprachkontakt entstehen, etwa im Türkischen, das in Deutschland gesprochen wird 00, oder umgekehrt durch die Einflüsse von Migrationssprachen auf die Umgebungssprache, wie beim Kiezdeutschen 00. Wieder andere Studien beschäftigen sich mit bedrohten Sprachen und Varietäten 00 und den vielfältigen Herausforderungen, vor denen sie und ihre Sprecher*innen im 21. Jahrhundert stehen.
Sprache als Identitätsmarker
Sprache ist mehr als ein Mittel der Kommunikation. Über sie teilen wir nicht nur Informationen, sondern schaffen Gemeinschaft, Zugehörigkeit und ein Selbstverständnis. Sprachen können somit als Identitätsmarker verstanden werden 00, die Menschen sowohl ein- als auch ausschließen. Dabei geht es um verschiedene Formen von Identität: Mit bestimmten Sprachen, Wörtern und Registern drücken wir etwa – bewusst oder unbewusst – unsere Teilhabe in einer sozialen Gruppe 00 aus oder geben uns als Anhänger*innen bestimmter politischer Einstellungen zu erkennen. So wird beispielsweise eine Stadt in Nordirland von dort ansässigen Protestant*innen „Londonderry“ genannt, während die Einheimischen katholischen Glaubens sie „Derry“ nennen. Auch in deutschen Regionen markieren schon beiläufige Redewendungen, wer dazugehört und wer nicht: Man versuche zum Beispiel, in Hamburg eine Semmel zu bestellen oder in München „Moin“ zu sagen, ohne direkt als Tourist*in eingestuft zu werden.
Einsprachigkeitsideologie
Moderne Nationalsprachen, wie wir sie heute kennen 00, sind erst im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden. Ihre sprachpolitische Bereinigung, Standardisierung und Verbreitung geht eng einher mit dem Aufkommen moderner nationalistischer Bewegungen und Prozessen der Nationenbildung. Soziolinguistische und historische Arbeiten zeigen, wie aus dieser doppelten Bewegung auch eine bestimmte Sprachideologie erwachsen ist. Der Idee nach fällt eine Nationalsprache mit einem festgelegten Territorium und einer entsprechenden nationalen Zugehörigkeit zusammen 00. Vorstellungen von nationaler Identität sind somit sehr eng mit der Erwartung verbunden, eine bestimmte Sprache alltäglich als Erstsprache zu benutzen. Diese Idee ist bis heute in Europa und – durch ihren kolonialen Export – auf der ganzen Welt wirkmächtig. Es handelt sich um eine Ideologie der Einsprachigkeit, die oftmals keinen deskriptiven, sondern viel eher normativen Charakter trägt: Deutsche sprechen Deutsch, und in Deutschland spricht man Deutsch, so wie man in Brasilien Portugiesisch spricht. Zu Beginn der Moderne hatte diese Idee durchaus emanzipativen Charakter: Man wollte alle Menschen am demokratischen politischen Diskurs beteiligen. Die Ideologie der Einsprachigkeit kann allerdings auch einen gesellschaftlichen Druck erzeugen, durch den Mehrsprachigkeit als Abweichung von der Normalität erscheint 00. Sie ist damit Quelle für verschiedene Formen von Vorurteilen und Diskriminierung. Der Linguist Yaron Matras legt etwa dar, dass im Zuge der britischen „Brexit“-Kampagne mehrsprachige Menschen zu defizitären Staatsbürgern erklärt wurden 00.
Diskriminierung
Die Vermischung von Sprachen gilt in den Kreisen konservativer Sprachschützer*innen oft als Form von Sprachverfall, obwohl es dafür in der Sprachwissenschaft keine Belege gibt 00. Welche Sprachen vor Vermischung, Veränderung oder einem vermeintlichen Verfall geschützt werden sollen, hängt unter anderem auch mit deren Status zusammen. Denn gesellschaftlich herrscht eine Hierarchie unter verschiedenen Sprachen sowie unter ihren Registern und Varietäten – also den unterschiedlichen Spielarten des Ausdrucks je nach sozialer oder geografischer Situation. So genießen bestimmte Amtssprachen beispielsweise ein höheres Prestige als Minderheitensprachen oder regionale Dialekte. Sprachwissenschaftlich ist die Trennung zwischen Sprache und Dialekt jedoch schwer zu ziehen 00. Zudem wird Sprachmischung in der Linguistik heutzutage generell nicht mehr als Regelverstoß oder Grenzüberschreitung betrachtet – sondern als Dauerzustand. 00 Die gesellschaftliche Diskriminierung bestimmter Sprachen und ihrer Sprecher*innen besteht trotz dieser Erkenntnisse aus der Wissenschaft fort. Nicht selten spielen dabei auch rassistische Motive eine Rolle: Während eine bi- oder multilinguale Sozialisation in prestigeträchtigen Sprachen wie Englisch oder Französisch meist ein hohes Ansehen genießt, wird Mehrsprachigkeit in größeren migrantisch geprägten Bevölkerungsgruppen (etwa im Falle des Türkischen in Deutschland oder des Spanischen in den USA) oftmals als gesellschaftlicher Problemfall 00 verhandelt. In der deutschen Öffentlichkeit sind Fälle bekannt geworden, in denen Schüler*innen von Lehrkräften bestraft wurden, weil sie auf dem Schulhof Türkisch gesprochen haben. Tatsächlich wird auch in der Politik regelmäßig über eine Deutschpflicht auf dem Schulgelände debattiert 00. Andere diskriminierende Praktiken gehen gerade den umgekehrten Weg: Mit Verbotsschildern, die gezielt nur in die Sprachen bestimmter Minderheiten übersetzt sind, werden diese Gruppen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als Unruhestifter*innen ausgewiesen. 00
Normalfall Mehrsprachigkeit
Die Ideologie der Einsprachigkeit verkennt dabei die gesellschaftliche Realität, in der Menschen meist in und mit einer Vielzahl von Sprachen zusammenleben. Auf allen Kontinenten und zu jeder Epoche. Aus linguistischer Sicht gilt Mehrsprachigkeit als „Normalfall sprachlicher Kommunikation.“ 00 Mehrsprachigkeit bedeutet dabei nicht nur das Nebeneinander klar voneinander abgegrenzter Einzelsprachen, sondern einen regen Kontakt und Austausch 00, in dem oftmals zwischen verschiedenen Sprachen gewechselt wird. Dabei können neue Mischformen entstehen: Englisch prägt und formt heute etwa Jugendsprachen weltweit. 00 Auch in migrantisch geprägten Communities entstehen durch das mehrsprachige Zusammenleben neue Formen sprachlichen Ausdrucks. In Deutschland beispielsweise das Kiezdeutsch. Von manchen als Verfall, von vielen anderen als Bereicherung erfahren 00, sind diese Vermischungen immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher Debatten, sozialer Kämpfe und politischer Regulierungen.
Regeln und Regulierungen
Sprachpolitik
Staaten haben ganz unterschiedliche Möglichkeiten, mit Mehrsprachigkeit umzugehen und den Sprachgebrauch auf ihrem Territorium politisch zu steuern 00. Verschiedene sprachpolitische Regime reichen von einer restriktiven Einsprachigkeit über verschiedene Übersetzungspolitiken bis hin zu radikalen Formen der Mehrsprachigkeit. Das Recht auf Übersetzung ist dabei ein wichtiger Baustein für die soziale Teilhabe von sprachlichen Minderheiten. Über ihre Sprachpolitik können Staaten ihren Einwohner*innen bestimmte ethnolinguistische Identitäten vermitteln oder – auch so wird es mitunter wahrgenommen – aufzwingen 00. Politiken der Einsprachigkeit können dazu führen, dass sprachliche Vielfalt im öffentlichen Leben nicht nur geleugnet, sondern tatsächlich eingeschränkt wird. 00 Dabei muss es sich keinesfalls um offensichtlich invasive Eingriffe wie Verbote handeln. Stattdessen sind die Prozesse, mit denen derartige Ideologien vermittelt werden, oft implizit und unspektakulär – etwas, das sich u.a. in der Schulbildung vollzieht. Es handelt sich um vielfach unbewusste, automatisierte Vorgänge, in denen die Menschen durch den Staat nahegelegte Identitäten alltäglich einüben 00.
Sprachenrechte
Politische Emanzipationsbewegungen von Minderheiten gehen oft einher mit einem Kampf um Sprachenrechte – das Recht, die eigene Sprache im privaten wie im öffentlichen Raum ungehindert sprechen zu können. 00 Derartige politische Auseinandersetzungen wurden und werden nicht nur im postkolonialen Raum ausgetragen, sondern auch in europäischen Ländern. Viele Minderheitensprachen sind heute durch internationale Abkommen geschützt, etwa den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 oder die Deklaration der Rechte von Angehörigen nationaler oder ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten von 1992. Heute gibt es auch sprachspezifische Schutzbestimmungen wie beispielsweise die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen 00. Für gesellschaftliche Kritik sorgt oftmals die bis heute gängige Unterscheidung zwischen sogenannter „autochthoner“ und „migrationsbedingter“ Mehrsprachigkeit 00: die Sprachen von alteingesessenen Minderheiten einerseits (in Deutschland etwa Sorbisch oder Friesisch), die Sprachen von Migrant*innen und ihren Kindern andererseits (in Deutschland etwa Türkisch, Arabisch oder Polnisch). Auch in Deutschland und Europa erhalten lediglich Minderheiten- und Regionalsprachen rechtlichen Schutz und Förderung, nicht aber die Sprachen von Migrant*innen und deren Nachkommen. Eine vielfach kritisierte Einschränkung, die einige Communities auf die eigenen Ressourcen, Projekte und den kollektiven Aktivismus zurückwirft, um ihre Sprache zu pflegen und lebendig zu halten.
Sprachaktivismus
Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit kann die Sprache, das Denken und den Austausch bereichern – sie kann aber auch Quelle für Ausgrenzung 00, Stigmatisierung und Diskriminierung 00 werden. Im Schatten großer Sprachen drohen Minderheitensprachen auch zu verschwinden 00, wenn sie nicht aktiv gepflegt werden. Sprachaktivist*innen in ganz unterschiedlichen Kontexten arbeiten daher daran, sowohl die Mehrheitsgesellschaft zu sensibilisieren als auch sprachliche Minderheiten sowie Angebote und aktiven Gebrauch verschiedener Sprachen zu fördern. Im Berliner Bezirk Pankow arbeitet beispielsweise das Projekt Migra UP! seit Jahren daran, Mehrsprachigkeit im Kiez zu stärken, Sprachgemeinschaften zu vernetzen und das Thema aktiv in der Berliner Politik zu verankern. 00 Auch in der niederdeutschen Sprachgemeinschaft gibt es eine starke Community, die sich dafür einsetzt, die Sprache zu revitalisieren, beispielsweise durch den Ausbau des medialen Angebots und mehrsprachigen Schulunterricht. 00 Es braucht viel Arbeit und Engagement, doch können sprachaktivistische Gruppen auch immer wieder einschneidende Erfolge vermelden. Die Gemeinschaft der Walisisch Sprechenden hat es beispielsweise nach Jahrzehnten des zivilen Ungehorsams geschafft, ihre Sprache zur Amtssprache zu machen. Dabei muss das Engagement nicht auf eine einzige Sprache beschränkt bleiben, wie u.a. der Linguist Yaron Matras mit dem Projekt „City of Languages“ zeigt. Gemeinsam arbeitet eine diverse Community daran, den Zusammenhalt von mehrsprachigen städtischen Gesellschaften zu stärken 00. Ein erklärtes Ziel des Projekts: dafür zu sorgen, dass multilinguale Menschen diskriminierungsfrei in ihren Sprachen leben, aufwachsen und – auch das spielt eine sehr wichtige Rolle – lernen können.
Bildung
In fast jeder Schulklasse in Deutschland gibt es Kinder und Jugendliche, die zuhause eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Forschende im Bereich Mehrsprachigkeit und Bildung kritisieren, dass trotz des erklärten Zieles der europäischen Sprachpolitik, alle EU-Bürger*innen sollten möglichst drei Sprachen beherrschen, ein monolingualer Habitus an deutschen Schulen zu beobachten sei. Mehrfach wurde in der deutschen Politik schon die Einführung eines Einsprachigkeitsgebots auf Schulhöfen debattiert 00. Die Rangordnung von Sprachen und ihres Prestiges steht in einem wichtigen Zusammenhang mit bildungspolitischen Fragen: Sprachen wie Englisch oder Französisch, die in der Schule gelehrt werden, genießen einen höheren Status als Minderheitensprachen oder solche, die als Migrationssprachen bezeichnet werden. Vonseiten der Wissenschaft wurden deswegen Vorschläge erarbeitet, wie die bereits vorhandenen, vielfältigen Sprachkenntnisse von Schüler*innen als Prüfungsleistung anerkannt werden können 00. Junge Menschen, die zuhause etwa Arabisch sprechen, könnten sich diese Kompetenzen dann als schulische Leistung anrechnen lassen. Diese Form der Anerkennung trägt auch das Potenzial, einen wertschätzenden Blickwinkel auf diverse multilinguale Identitäten zu bekräftigen. Eine qualitative Untersuchung unter Schüler*innen in Deutschland ergab, dass diese eine gegenüber der eigenen Mehrsprachigkeit vorwiegend positive Einstellung pflegen, was sich positiv auf ihr Selbstbewusstsein auswirkt. 00 Einen ähnlichen Effekt könnte man der rasant angestiegenen Präsenz des Englischen im Alltag vieler junger Menschen bescheinigen. Der ständige Kontakt mit der Weltsprache schlägt sich für viele junge Menschen zwar auch im Schulalltag nieder. Jedoch beeinflusst er mehr die Umgangssprache und trägt zum gruppenbildenden Kommunikationskitt bei 00, als dass er die Einhaltung institutioneller und prüfungsrelevanter Sprachnormen fördert.
Regeln des Sprachkontakts: Lehnwörter
Wenn Sprachen länger miteinander in einem gemeinsamen Lebensraum existieren, kommt es zu gegenseitigem Einfluss. Je nachdem, wie die Sprachen sozial, ökonomisch und kulturell konstellieren, ergeben sich verschiedene Formen des Kontakts, der Vermischung und der gegenseitigen Entlehnung bestimmter Wörter oder Strukturen. Einige Elemente sind anfälliger für sogenannte Sprachkontaktphänomene 00 als andere. Am schnellsten und leichtesten entlehnen sich Bezeichnungen aus der dominanten Umgebungssprache für kulturspezifische oder stark lokal gebundene Dinge wie Verwaltung, Institutionen oder Feste (z.B. im eigentlich russischen, aber unübersetzt verständlichen Satz В Занкт Йозеф-Штифте дармшпигелюнг делают – W Sankt Iosef-Schtifte darmschpigeljung delajut; so gehört in der Bremer Straßenbahn). Auch technische und soziale Innovationen gehören dazu – man denke an all die Anglizismen, die uns in den sozialen Medien begegnen. Aus historischen oder sprachstrukturellen Gründen entwickeln sich bei der Entlehnung in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Regeln. Während z.B. im Deutschen Lehnworte mit nur minimaler Anpassung übernommen werden (vgl. Büro < Französisch bureau; Touchscreen; Radar), bauen andere Sprachen die Wörter mit verschiedenen Strategien 00 nach, wie z.B. im Isländischen und Chinesischen, wo Wörter inhaltlich nachgebaut (skrifstofa ‚Schreibstube‘, 辦公室 bàngōngshǐ ‚Arbeitsraum; snertiskjár, 觸摸屏 chùmōpíng ‚Berührschirm‘) oder sogar lautlich und inhaltlich nachempfunden werden (ratsjá ‚Wegfindungsseher‘, 雷达 léidá ‚erreicht durch Donner‘). Weil Wörter aus anderen Sprachen niemals exakt deckungsgleich aus Sprache B in Sprache A übernommen werden, kritisiert Lars Johanson die Metapher des Leihens (borrowing). Seiner Theorie zufolge werden Wörter kopiert, und diese Kopie unterscheidet sich vom Original, meist phonetisch, aber auch oft semantisch und morphologisch. Die Metapher des Kopierens kann eine veränderte Einstellung zum Sprachwandel ermöglichen: Fremdwörter werden integriert und an die Zielsprache angepasst, somit ist dies keine Bedrohung für die Zielsprache, denn diese wird durch ein paar kopierte Wörter nicht „angegriffen“ oder „infiziert“. Im Deutschen werden kopierte Nomen beispielsweise in das Genus-, Numerus- und Kasussystem integriert, auch wenn diese Kategorien in der Ursprungssprache nicht in der gleichen Form existieren. So richtet sich das englische Nomen computer als Lehnwort nach den deutschen Regeln und wird maskulin (der), verliert das -s im Plural, wird großgeschrieben und kann in allen vier Fällen auftreten (des Computers, dem Computer etc.).
Regeln des Sprachkontakts: Strukturen
Strukturelle Veränderungen in der Sprache sind oftmals weniger auffällig als einzelne Lehnwörter, aber trotzdem sehr geläufig. Im Fall von Lehnübersetzungen werden die einzelnen Lexeme aus Sprache A beibehalten, aber Sprache B bietet die Schablone dafür. Bekannte Beispiele hierfür sind „Das macht Sinn“ (von engl. that makes sense) oder die schon lange etablierten Bezeichnungen „Großmutter“ und „Großvater“ (von frz. grand-mère, grand-père). Noch eine Ebene tiefer kann sich die Form der Worte verändern, indem zum Beispiel Beugungen vereinfacht oder verändert werden oder gar neue Möglichkeiten des kreativen Sprachspiels übernommen werden, die das Repertoire an feingliedrigen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern. Ein Beispiel ist die aus dem Türkischen übernommene m-Reduplikation 00 („Wahrheit Mahrheit“), die vor allem in der Jugendsprache als Wortspiel oder Stilmittel eingesetzt werden kann. Ähnliche Muster finden sich auch im Russischen 00, wo zum Beispiel reduplizierend geschimpft werden kann. Beim sogenannten Codeswitching findet ein eher schneller Wechsel zwischen Sprachen statt, der sogar innerhalb eines Satzes auftreten kann. Auch dies geschieht nicht willkürlich – es gibt Regeln dafür, wann und wie das Codeswitching angemessen ist. Oftmals wird die grammatische Struktur eines Satzes durch eine Sprache vorgegeben und beibehalten (Matrix Language), während eine andere Sprache einzelne Wörter oder Satzteile beisteuert. Auch Interjektionen, Füllwörter oder idiomatische Ausdrücke können in die Matrix-Sprache eingebettet werden. Im Kiezdeutschen kommt zum Beispiel häufig das arabische Wort wallah („ich schwöre“, wörtlich „und Allah“) vor, während weiterhin die deutschen Satzbau-Regeln gelten.
Vielfalt
Vielfalt Weltweit
Weltweit werden rund 7.000 Sprachen gesprochen. Sprachatlanten und linguistische Karten führen diese enorme Vielfalt eindringlich vor Augen. 00 Sie machen deutlich, dass Städte, Staaten und Regionen in den seltensten Fällen homogene Gebiete sind. 00 Egal ob New York, Nigeria oder Schleswig-Holstein – Menschen leben in einem Neben- und Miteinander von verschiedenen Mehrheits- und Minderheitensprachen zusammen 00. Diese Sprachen beeinflussen und bereichern sich oft gegenseitig.
Sprachtod
Doch weltweit sind inzwischen tausende Sprachen akut vom Aussterben bedroht. 00 Dabei gilt: Je kleiner eine Sprache, desto gefährdeter ist ihr Dasein. Gerade, wenn sie sich ihr Gebiet mit anderen, mächtigeren Sprachen teilen muss. In Europa sind beispielsweise das Sizilianische, Irische, Jiddische und Niederdeutsche 00 gefährdet. Weltweit betrachtet könnten von den heutigen etwa 7000 Sprachen bis Ende des Jahrhunderts rund 3000 aussterben – eine alarmierende Vorstellung, die das Max-Planck-Institut für Anthropologie in Leipzig sogar auf lediglich 100 verbleibende Sprachen im Jahr 2200 zuspitzt. Ob eine Sprache überleben kann, hängt von vielen Faktoren ab, wie z.B. der Alltagstauglichkeit im modernen, digitalen Leben 00, dem Prestige in der Mehrheitsgesellschaft und auch der Verfügbarkeit von Schulunterricht in und über die Sprache. Überall auf der Welt setzen sich Menschen mit einer Vielzahl von Initiativen dafür ein, vom Aussterben bedrohte Sprachen zu erhalten. Seit mehreren hundert Jahren gibt es außerdem immer wieder Ansätze, neue Sprachen zu erschaffen, beispielsweise Esperanto 00. Im Kontext der Kolonialisierung sind tatsächlich, jedoch ohne dahinterliegende Planung, neue Sprachen entstanden: sogenannte Pidgin- und Kreolsprachen 00, die eine Mischung aus verschiedenen, miteinander in Kontakt gekommenen Sprachen darstellen. Doch ob alteingesessen, neu entstanden oder künstlich erschaffen: Keine Sprache ist gefeit vor den Zugkräften politischer Strömungen und den lokalen Einflüssen der Lebensrealitäten ihrer Sprecher*innen. Sie alle bleiben im Wandel.
Europa
Die allermeisten Länder in Europa weisen eine hohe Sprachenvielfalt auf. Einige Staaten haben mehrere Amtssprachen. In anderen gibt es zahlreiche Minderheitensprachen, die besonderen rechtlichen Schutz genießen und in einzelnen Regionen als Verkehrs- und Amtssprache gesprochen werden. Schließlich sind europäische Gesellschaften allesamt Einwanderungsgesellschaften – hier werden eine Vielzahl von Sprachen von Migrant*innen, deren Nachkommen und Familien gesprochen. Viele sprachliche Minderheiten in Europa haben mitunter jahrhundertelang gesellschaftliche Kämpfe um Selbstbestimmung ausgetragen. Gerade im 20. Jahrhundert hat dieser Einsatz in einigen Staaten und Regionen Europas zu einer sprachpolitischen Wende geführt. Etwa in Wales, im Südwesten Großbritanniens. 00 Dort war seit dem 16. Jahrhundert das Englische als Amtssprache per Gesetz verpflichtend, die Zahl an Sprecher*innen des Walisischen schließlich immer weiter zurückgegangen. Heute, nach einem jahrzehntelangen Kampf um Sprachenrechte, ist die Sprache mit dem Englischen rechtlich gleichgestellt. Zudem existieren Programme, um die Verbreitung der Sprache zu sichern. Der Kampf um Sprachenrechte kann allerdings auch in Nationalismus umschlagen. Das zeigt etwa die politische Lage in Belgien. 00 Jahrzehntelang hatte dort die niederländischsprachige Bevölkerung um Gleichberechtigung ihrer Sprache gegenüber den französischsprachigen Eliten gekämpft. Heute geht es den dominanten politischen Kräften im niederländischsprachigen Flandern allerdings nicht mehr um ein mehrsprachiges Belgien, sondern um ein niederländischsprachiges Flandern. Das Land ist entlang seiner Sprachgrenzen auch politisch gespalten, was in vielen gesellschaftlichen Projekten für Stillstand sorgt. Als Musterbeispiel gelungener Zweisprachigkeit gilt hingegen Finnland 00 – hier genießt neben dem Finnischen auch das Schwedische einen Status als Amtssprache, obwohl die Sprache nur von rund fünf Prozent der Bevölkerung gesprochen wird. Auch die Schweiz wird oft als gelungenes Modell eines mehrsprachigen Staates angeführt. 00 Oft fällt das Augenmerk hier auf Biel/Bienne, die größte zweisprachige Stadt des Landes. Doch die Realität ist, wie die Forschung zeigt, auch hier komplexer: Es wird deutlich, dass „Zweisprachigkeit“ genauso wie „Einsprachigkeit“ ein soziales Konstrukt darstellt und dass die tatsächliche sprachliche Diversität hinter eine ideologisch geprägte „Zweisprachigkeit“ zurückfällt.
Historische Vielfalt in Deutschland
Deutschland ist nicht erst seit der Ankunft von sogenannten „Gastarbeiter*innen“ ein mehrsprachiges Land. Der Gebrauch von diversen Sprachen neben dem Deutschen hat eine lange Tradition, die sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt 00. Eine einheitliche deutsche Nationalsprache entstand erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und ist das Ergebnis regulatorischer Sprachpolitik. Ziel der deutschen Sprachpolitik war lange Zeit die Vereinheitlichung. So hat etwa die preußische Verwaltung versucht, Minderheitensprachen in den Reichsgrenzen – etwa Polnisch, Französisch und Dänisch – zu marginalisieren. Ebenso das Niederdeutsche und regionale Dialekte. Dennoch haben sich viele dieser Sprachen und Varietäten bis in die Bundesrepublik hinein erhalten. Auf Grundlage der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen erhalten einige von ihnen heute besondere Rechte und Förderung 00. Anerkannt sind in Deutschland die Regionalsprache Niederdeutsch sowie die Minderheitensprachen Dänisch, Friesisch, die sorbischen Sprachen und Romanes. Viele dieser Sprachen, wie etwa das Niederdeutsche, haben mit einem starken Rückgang der Sprecher*innenzahl zu kämpfen. Dagegen kämpfen jedoch immer mehr Sprachaktivist*innen mit politischer, medialer und pädagogischer Arbeit an.
Mehrsprachigkeit in der Bundesrepublik
Neben den offiziell anerkannten Regional- und Minderheitensprachen wird in Deutschland eine Vielzahl an weiteren Sprachen gesprochen. Wie viele es genau sind, ist allerdings statistisch nicht gut erfasst 00. Erst seit 2017 fragt das Statistische Bundesamt im jährlichen Mikrozensus ab, welche Sprache Menschen in Deutschland zuhause sprechen – gefragt wird allerdings nach einer Sprache im Singular. Forscher*innen kritisieren, dass die Umfrage den mehrsprachigen Realitäten in deutschen Haushalten nicht gerecht werde und keine repräsentativen Daten liefere. Als präziser gilt die „Deutschland-Erhebung 2017/2018“ 00, die das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführt hat. Dort gaben 88 Prozent der Befragten Deutsch als ihre Muttersprache an. Daneben sind Russisch, Türkisch, Polnisch, Italienisch, Englisch, Spanisch und Griechisch die meistgenannten Muttersprachen. Allerdings ist die Stichprobe der Studie im Vergleich zum Mikrozensus recht klein. Daher ist es schwer, generelle Schlüsse zu ziehen.
In jedem Fall kann etwa das Türkische als eine der größten in Deutschland gesprochenen Minderheitensprachen betrachtet werden. Forscher*innen fanden heraus, dass sich das hierzulande gesprochene Türkisch mittlerweile sogar in einigen Aspekten von der in der Türkei gesprochenen Sprache unterscheidet. Auch das Deutsche verändert sich durch den zunehmenden Kontakt mit anderen Sprachen. Seit Mitte der 1990er Jahren ist in deutschen Großstädten, besonders in Stadtteilen mit vielen (post-)migrantischen Einwohner*innen, eine neue Form des Deutschen zu hören. Sie wird als „Kanak Sprak“, „Kanackiş“ oder „Kiezdeutsch“ bezeichnet und zeichnet sich durch einen hohen Anteil insbesondere türkischer und arabischer Lehnwörter sowie eine spezifische Form der grammatischen Verdichtung aus. Viele Sprachwissenschaftler*innen vertreten die Ansicht, dass es sich dabei um eine produktive Erweiterung der deutschen Sprache handelt.
Unser Kanal hatte zum Ziel, einen Einblick in das komplexe Geflecht der Sprachen, Identitäten und gesellschaftlichen Dynamiken zu bieten, die das menschliche Miteinander lokal wie global ausmachen. Inmitten der Vielfalt und dem drohenden Verlust von Sprachen weltweit stellte sich am Ende immer wieder die Frage, wie wir unser mehrsprachiges Leben gestalten wollen. Die Ideologie der Einsprachigkeit wird in vielen Teilen der Welt noch immer als Norm betrachtet – doch Mehrsprachigkeit ist und bleibt der Normalfall. Unser Kanal hat den Finger in dieses Spannungsfeld gelegt und konnte die Herausforderungen beleuchten, die individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit bergen. Herausforderungen, aber auch enorme Potenziale für kognitive Fähigkeiten und gesellschaftliche Bereicherung. In der Bildung und Sprachpolitik stehen wir vor entscheidenden Fragen, wie wir die Vielfalt der Sprachen wertschätzen und fördern können, um dem Verfall vorzubeugen. Sprachrechte, Aktivismus und der bewusste und reflektierte Umgang mit Sprachkontaktphänomenen zeigen, dass die Gestaltung eines mehrsprachigen Lebens auch eine politische Dimension hat. Die drohende Gefahr des Sprachtods und die Dynamik des Sprachkontakts erinnern uns daran, dass ein Wandel unaufhaltsam ist, aber auch von unseren Entscheidungen beeinflusst wird.