Wege in den Krieg, Wege des Krieges, Wege aus dem Krieg
Seit Oktober 2022 beleuchtet der Kanal Ukraine: Krieg die Katastrophe in der Ukraine. In 92 Texten gingen unsere Kurator*innen, Redakteur*innen und Gastautor*innen zu zahlreichen Aspekten des Kriegs ins Detail: von dessen strukturellen Ursachen über die ukrainische Geschichtskultur, das Scheitern russischer Soft Power bis hin zur Wirksamkeit von Diplomatie und Sanktionen. Der folgende Diskurs-Hub führt die veröffentlichten Formate zusammen und macht sie anhand von drei Fragen navigierbar: Was waren die Wege in den Krieg? Was sind die Wege, die der Krieg bisher genommen hat? Und welche Wege könnten aus dem Krieg herausführen?
Seit dem 24. Februar 2022 herrscht in der Ukraine ein Krieg, dessen Ausmaß nur wenige vorhergesehen haben. Zwar hatte die Russische Föderation bereits seit 2014 militärisch im Donbass interveniert und somit de facto einen Kriegszustand geschaffen, der nur von zeitlich und räumlich begrenzten Waffenruhen unterbrochen wurde. Die Entscheidung zur vollumfänglichen Invasion im Jahr 2022 jedoch stellt eine Zäsur geopolitischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlich-kultureller Art dar. Die bereits jetzt vollzogenen Weichenstellungen sind fundamental: Das Schicksal der Ukraine ist zu einer gesamteuropäischen Frage geworden. Deutschland verkündete eine sicherheitspolitische „Zeitenwende“, Finnland ist nach Jahrzehnten der Neutralität der Nato in Rekordzeit beigetreten und auch Schweden befindet sich (Stand Juni 2023) auf dem Weg in das Verteidigungsbündnis. Weltwirtschaftlich verschärft der Krieg das Problem steigender Energie- und Lebensmittelkosten, was insbesondere zu Lasten der Länder des Globalen Südens geht. Deren politische Entfremdung von den USA und Europa scheint der Krieg zudem zu vertiefen, unterscheiden sich doch die Perspektiven auf die Ursachen und möglichen Auswege aus dem Konflikt.
Wege in den Krieg
Die Entscheidung zur Invasion der Ukraine mit dem Ziel des Sturzes der Regierung in Kyjiw wurde von Wladimir Putin und einer kleinen Zahl Vertrauter getroffen. Die Rekonstruktion der Vorgeschichte des Kriegs ist damit allerdings noch nicht abgeschlossen, will man verstehen, wie es zu dieser Entscheidung kam. Wie konnte sich das russische Regime derart personalisieren? Wie gestalteten sich historisch die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland? Und inwiefern ermöglichte oder erschwerte der internationale Kontext die Entscheidung des Kreml für eine vollumfängliche militärische Invasion? Diese Fragen zu stellen bedeutet nicht, die Verantwortung Russlands für das verursachte Leid zu relativieren. Im Gegenteil: Das Offenlegen der “Wege in den Krieg” zeigt sowohl Kontingenzen im Hergang des Kriegs und als auch die Strukturen, die zu überwinden gilt, will man wieder zu Frieden im östlichen Europa kommen.
Historische Traumata
Steht Russlands Angriff auf die Ukraine in einer historischen Kontinuitätslinie mit anderen militärischen Übergriffen und Verbrechen? Handelt es sich gar um einen Konflikte zweier traumatisierter Gesellschaften? 00 Diese Debatte 00 hat sich vor allem an der ukrainischen Hungersnot der 1930er Jahre, dem sogenannten Holodomor, entzündet. Während im Lichte der russischen Invasion Politiker*innen und Aktivist*innen das Intentionale der Hungersnot betonen und einen Bogen zu den genozidalen Tendenzen des gegenwärtigen Angriffskrieg spannen, sind viele Historiker*innen 00 zurückhaltend geblieben. Auch innerhalb der Ukraine ist die Erinnerung an den Holodomor 00 eng mit politischen Entwicklungen verknüpft. 00 Dem Befund eines russischen Kolonialismus gegenüber der Ukraine, der sich nun in einem erneuten Eroberungskrieg offenbare, begegnet die historische Forschung ebenfalls mit Zurückhaltung. 00
Darüber hinaus sieht sich die Osteuropaforschung mit dem Vorwurf konfrontiert, in den vergangenen Jahrzehnten die von Russland ausgehende Kriegsgefahr relativiert oder gar ausgeblendet zu haben. Gleichzeitig erlauben es postkoloniale Konzepte und Forschungsperspektiven, alte Dogmen der russischen und ukrainischen Geschichte infrage zu stellen. Die historische Komplexität der ukrainisch-russischen Beziehungen scheint jedoch nur bedingt anhand genozidaler oder kolonialer Kontinuitätslinien fassbar zu sein. Der Forderung an die Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie vor allem die russische Politik, sich zu dekolonisieren, begegnen einige Forschende mit einer Warnung: Es bestehe die Gefahr, dass die auf die Geschichte fixierte Überbetonung des Traumas 00 und der Kolonialerfahrung eine emanzipatorische Debatte 00 über die Zukunft der Ukraine erschwere.
Geteiltes Erbe
Die Ukraine, Belarus und Russland waren die Gründungsrepubliken der Sowjetunion. Nach deren Zerfall entbrannte ein langer Streit um das sowjetische Erbe. Im Jahr 2020 erklärte sich Russland im Zuge einer Verfassungsänderung 00 endgültig zum Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Hinter dem jahrelangen ukrainisch-russischen Streit um die völkerrechtliche Nachfolge stand vor allem ein Konflikt um die Begleichung von Schulden. Trotz laufender Verhandlungen mit der Ukraine beglich die russische Führung alle finanziellen Ausstände der Sowjetunion und beanspruchte den gesamten sowjetischen Auslandsbesitz für sich. Dadurch wurden jegliche Verhandlungen mit der Ukraine abgebrochen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Streit um das Erbe passé ist: In seinen Kriegsreden 00 im Februar 2022 sprach der russische Präsident Wladimir Putin mehrmals davon, dass Russland alles getan habe, um seine Schulden zu begleichen und einen Dialog mit der Ukraine zu führen, doch dass die Ukraine nie verhandlungs- oder kompromissbereit gewesen sei – eine Falschbehauptung, der die Selbsternennung Russlands zum alleinigen Sowjeterben gegenübersteht.
Euromaidan
Der Euromaidan von 2013/14, auch bekannt als Revolution der Würde, gilt als Zäsur in der politischen Entwicklung der Ukraine. Die Proteste im Zentrum Kyjiws führten zur Flucht und Amtsenthebung des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Auslöser der Massendemonstrationen waren vor allem die Nichtunterzeichnung des jahrelang vorbereiteten Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine sowie die wachsende Unzufriedenheit mit Janukowytschs kremlnaher Politik. Im Zuge der Demonstrationen kam es zu gewaltvollen Ausschreitungen zwischen Protestierenden und staatlichen Einheiten, in deren Zuge über 100 Zivilist:innen von Scharfschützen erschossen wurden. Die Verstorbenen sind als Himmlische Hundertschaft in das kollektive Gedächtnis 00 der Ukraine eingegangen. Die Erinnerung an sie trägt zuweilen religiöse Züge: Sie werden als Märtyrer dargestellt, die ihr Leben für die Freiheit der Ukraine geopfert haben.
Politik und Sprache
Die Ukraine ist seit Jahrhunderten ein Gebiet mit multiethnischer Bevölkerungszusammensetzung. Die größten ethnischen Gruppen waren im Laufe der Geschichte – und sind bis heute – Ukrainer und Russen. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine und der Herausbildung eines nationalen Bewusstseins wurde die Multiethnizität und damit einhergehende Multilingualität des Landes zu einem Thema der Innenpolitik 00. Seit 1991 stand die Frage nach der Amtssprache der Ukraine immer auf der politischen Agenda. Je nachdem, wer das Amt des Staatsoberhauptes innehatte, variierte der Umgang mit der russischen Sprache: Leonid Krawtschuk verfolgte das Ziel der Bilingualität des Landes, Leonid Kutschma wollte die russische Sprache schützen und sie zur Amtssprache erheben, Wiktor Juschtschenko war Vertreter der Ukrainisierungspolitik und führte Quoten für die Verwendung der ukrainischen Sprache in der Kultur- und Medienindustrie ein. Die Geschichte des Umgangs mit der Mehrsprachigkeit war stets konfliktgeladen: Was für die einen emanzipatorisch im Entstehungsprozess einer postsowjetischen ukrainischen Nation war, wirkte auf die anderen unterdrückend. Allerdings zeigen Studien 00, dass vor allem die militärische Intervention Russlands im Donbass in den Jahren 2014/15 dafür sorgte, dass Sprache zu einem politisch spaltenden Thema wurde.
Krim-Annexion
Die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim am 18. März 2014 gilt als eigentlicher Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine 00, der mit der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022 lediglich eine neue Eskalationsstufe erreicht hat. Die Annexion sowie die verdeckte Intervention des russischen Militärs im Donbass seit 2014 haben einerseits umfangreiche Sanktionen 00 westlicher Staaten zur Folge gehabt, wenngleich diese immer noch zu schwach waren, um Russland von seinem Kurs abzubringen. Ferner setzten sofort diplomatische Bemühungen zur Regulierung des bewaffneten Konflikts ein, die in den beiden Abkommen Minsk I und Minsk II mündeten. Zwar konnten diese Verhandlungen den Krieg teilweise einfrieren, wenngleich es zwischen 2014 und 2022 wöchentlich Todesopfer an der sog. Kontaktlinie zu beklagen gab. Dem Diplomaten Wolfgang Sporrer 00 zufolge scheiterten die Minsker Vereinbarungen letztendlich daran, dass keine der beiden Seiten ein wirkliches Interesse an der Umsetzung der vereinbarten Schritte zur nachhaltigen Befriedung des Konflikts hatte. Ein wichtiger Grund für diese Blockade war vor allem, dass mit Russland ein Staat vorgab, Vermittler zu sein, der selbst Konfliktpartei war und dies noch immer ist.
NATO-Osterweiterung
Vor dem 24. Februar 2022 nahm die Nato-Osterweiterung in den Stellungnahmen staatlicher russischer Vertreter*innen einen großen Raum ein. Nach dem Kriegsbeginn hingegen rückte die Nato in den Reden Wladimir Putins 00 in den Hintergrund. Seitdem sind die von Putin genannten Hauptgegner der „kollektive Westen“ oder die „faschistische Regierung in Kyjiw“. Die Rolle der Nato im Ursachengeflecht des Krieges wird von Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen unterschiedlich bewertet. Während für einige die Nato-Erweiterung ein zentraler Kausalfaktor im Hergang der russischen Invasion war, zeigt für andere Putins imperiale Fixierung auf die Ukraine als fester historischer Bestandteil Russlands, dass die Nato als Kriegsgrund keine entscheidende Rolle gespielt hat. Wiederum andere verstehen die Politik der Nato nicht als harten Bedingungsfaktor des Kriegs, sondern einen wichtigen Bestandteil eines breiteren institutionellen Kontexts 00, aus dem Russland seit 1991 ausgeschlossen gewesen sei.
Soft Power
Russlands militärische Invasion bedeutet auch das Scheitern der indirekten und „weichen“ Machtmittel des Kreml in der postsowjetischen Ukraine. Vor dem Krieg war diese sogenannte Soft Power ein wichtiger Bestandteil der außenpolitischen Strategie Russlands. Sie sollte helfen, nicht nur die staatlichen Eliten, sondern vor allem die Gesellschaften des postsowjetischen Raums von der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Attraktivität Russlands zu überzeugen. Ähnlich wie die USA, deren weltweite kulturelle Hegemonie dem Politikwissenschaftler Joseph Nye als Blaupause 00 für den Begriff der Soft Power diente, zielte auch Russland darauf, durch die internationale Expansion russischer Medien und der Unterhaltungsindustrie, die Stärkung von Kulturdiplomatie sowie gezielten staatlichen PR-Kampagnen Einfluss in Ländern mit russischsprachigen Minderheiten zu gewinnen. Russland nutzte allerdings nicht nur die nach wie vor bestehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbindungen zu seinen Nachbarn, die von der geteilten sowjetischen Vergangenheit herrühren. Vielmehr diente die indirekte Einflussnahme einer neo-imperialen Agenda 00, etwa in Form der ausgerufenen „russischen Welt“ 00 (Russkij Mir), die unter Wladimir Putin immer mehr an Bedeutung gewonnen 00 hat. In der Kombination aus versuchter indirekter Einflussnahme und direktem Zwang liegt eine wichtige Ursache für das Scheitern russischer Integrationsprojekte wie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU) in der Ukraine und den letztendlichen Rückgriff auf das harte Machtmittel des Militärs seit 2014.
(Neo-)Imperialismus
Die Offenheit, mit der Wladimir Putin seinen Verfügungsanspruch über die Politik der Ukraine im Februar 2022 formulierte, legt die Diagnose eines imperialistischen Eroberungskriegs nahe. Gleichzeitig wirft der russische Imperialismus eine Reihe von Fragen auf: Was bedeutet imperial(istisch)e Politik in einer post-imperialen Situation? 00 Ist Russland nach dem Untergang der Sowjetunion immer noch ein Imperium oder ein Nationalstaat? 00 Und weshalb geht seit 2014 die territoriale auf Kosten der ökonomischen Expansion? 00
Andere Wissenschaftler*innen verstehen die Imperialität russischer Politik nicht als Einzelfall, sondern betonen den Konflikt zwischen verschiedenen hegemonialen Projekten 00 in Eurasien. Kritiker*innen dieser Projekte verweisen darauf, dass entsprechende Konflikte in der Vergangenheit allzu oft in territorialen und militärischen Nullsummenspielen 00 gemündet hätten, anstatt dass die involvierten Akteure diplomatische Lösungen finden.
„System Putin“
Für viele Beobachter*innen ist die Kriegsentscheidung Wladimir Putins vor allem aus der Verhärtung des autoritären „Systems Putin“ zu verstehen. Im Mittelpunkt der Erklärung steht das Phänomen der Regimepersonalisierung 00: Anstatt dass Politik institutionellen Bahnen folgt, laufen alle wichtigen Entscheidungsprozesse beim obersten „Patron“ Wladimir Putin zusammen. Andere Institutionen, wie etwa die Staatsduma oder das Außenministerium, verlieren hingegen immer mehr an Bedeutung. Mit der herausgehobenen Bedeutung von Individuen gewinnen deren Ideologien und Weltbilder 00 an Bedeutung – ohne dass sie institutionell eingehegt werden können. Nur hierdurch, so etwa der Politikwissenschaftler Fabian Burkhardt, sei nachvollziehbar, wie Putin eine Invasion dieser Größenordnung gegen das Wissen der eigenen Elite und Gesellschaft beginnen konnte.
Die Personalisierung wirkt jedoch nicht nur beschränkend, sondern zuweilen auch ermöglichend: Wie Allard Duursma und Niklas Masuhr von der ETH Zürich argumentieren 00, erlauben es die personalistischen Strukturen Russland, in afrikanischen Ländern mit ähnlich geformten Machtbeziehungen gezielt den eigenen Einfluss auszubauen. Regimepersonalisierung hat demnach zwei Folgen: Zum einen verwischt sie den Unterschied zwischen Russlands staatlicher Politik und den neo-imperialen Ambitionen Putins. Zum anderen macht sie die Außenpolitik Russlands informeller, indem sie die Bedeutung individueller Beziehungen und paramilitärischer Einheiten aufwertet.
Faschismus
Zwar gab es auch vor der russischen Invasion Stimmen (und genauso viele Gegenstimmen), die das unter Wladimir Putin entstandene System in Russland als faschistisch bezeichneten. Mit den zunehmenden innenpolitischen Repressionen, die seit Februar 2022 den Krieg gegen die Ukraine begleiten, hat die Debatte 00 um einen entstehenden russischen Faschismus sowohl medial als auch in den Sozialwissenschaften wieder an Fahrt gewonnen. Z-Symbolik, Führer- und Totenkult sowie die Militarisierung von Politik und Gesellschaft geben jenen Stimmen 00 Aufwind, die Putinismus als Faschismus verstehen. Kritiker*innen 00 wiederum verweisen auf das Fehlen einer Massenbewegung „von unten“ sowie die politischen Implikationen, würde man Russland unter Putin tatsächlich als faschistische Diktatur behandeln. Die Debatte findet dabei Widerhall in der deutschen Geschichte: So streichen einige Autor*innen 00 die Parallelen zwischen der Entstehung des Faschismus im Weimarer Deutschland der 1920er und 30er Jahre und den faschistischen Zügen des modernen Russlands heraus, betonen aber auch die in beiden Fällen unterschiedlichen politischen Systeme.
Wege des Krieges
Neben der Debatte um die Kriegsursachen hat Russlands Angriff eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die die Kriegshandlungen und den Verlauf der Kämpfe selbst betreffen. Dies betrifft zum einen die menschlichen Kosten des Krieges, deren konkrete Ermittlung ob der Verschwiegenheit bzw. gezielten Desinformation beider Seiten über die erlittenen Verluste schwierig bleibt. Auf russischer Seite hat die propagandistische Euphemisierung des Kriegs als „militärische Spezialoperation“ einen Widerspruch zwischen Kriegsrealität und -wahrnehmung entstehen lassen. Mit den anfänglichen Geländegewinnen der russischen Armee stellte sich auch die Frage, wie sich die Bevölkerung in diesen Gebieten verhalten sollte und welche Konsequenzen die freiwillige oder erzwungene Kollaboration mit dem russischen Besatzungsregime zukünftig haben würde.
In westlichen Staaten setzte zudem unmittelbar mit Kriegsbeginn eine hitzige und oft binär geführte Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine sowie den Umfang und die Realisierbarkeit von Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein. Mit der seit Kriegsbeginn stetig wachsenden militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten warfen einige Beobachter*innen schließlich die Frage auf, inwiefern es sich um einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA handelt.
Menschliche Kosten
Der Krieg ist in erster Linie eine große menschliche Tragödie und zeichnet sich durch enorme Gewalt und Zerstörung aus: Mehr als 100.000 Soldaten auf beiden Seiten sollen je nach Quelle bereits ihr Leben verloren haben, von 22.209 zivilen Opfern (8.317 Tote und 13.892 Verletzte) sprach im März 2023 das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR), mehr als 8 Millionen Menschen aus der Ukraine waren mit Stand Mitte März 2023 auf der Flucht. Zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 17. März 2023 hat die Unesco Schäden an 247 Kulturstätten festgestellt, 3145 Bildungseinrichtungen haben unter Bombardements und Beschuss gelitten, 415 davon wurden zerstört.
Bei Soldat*innen hinterlässt der Krieg sichtbare und unsichtbare Wunden. Darüber, was letztere bedeuten, berichteten nach einem Jahr Krieg immer mehr Medien, Mitte März 2023 etwa die New York Times aus der psychiatrischen Klinik Pawliwka in Kyjiw. Viele Soldat*innen könnten aus psychologischen Gründen nicht mehr kämpfen, da sie zu lange an der Front gewesen seien. Von Tausenden verwundeten und traumatisierten russischen Soldaten, die von der Front nach Russland zur Rehabilitation zurückkehren, berichtete auch das russische Portal Meduza. Der Reportage zufolge würden viele Soldaten versuchen, ihre traumatischen Kriegserfahrungen mit Alkohol zu betäuben, was für manche von ihnen auch fernab der Front tödlich ende.
Waffenlieferungen
Die Diskussion darüber, wie man auf die russische Aggression reagieren sollte, entzündete sich in Deutschland insbesondere an der Frage von Waffenlieferungen. Zum Teil beeinflusst von der Tradition der deutschen Friedensbewegung 00, forderte (und fordert) eine Seite einen Verzicht auf die Lieferung schwerer Waffen und eine sofortige Intensivierung diplomatischer Bemühungen zur Beilegung des bewaffneten Konflikts. Dem stehen Aufrufe gegenüber, sich außen- und sicherheitspolitisch von der Angst vor russischen Atomdrohungen zu lösen und die Ukraine in umfassendem Maße mit den geforderten Waffensystemen zu beliefern. Im europäischen Vergleich stellt die Fixierung der öffentlichen Diskussion auf die atomare Bedrohung und den vermeintlichen Gegensatz aus Waffenlieferungen und Verhandlungen eine deutsche Besonderheit dar. Während sich in der deutschen Öffentlichkeit beide Positionen lange Zeit oft diametral gegenüberstanden, blieben differenzierte Auseinandersetzungen 00 mit den Zielen, der Wirkung und auch der normativen Angemessenheit von Waffenlieferungen rar. In der Hitze der medialen Auseinandersetzung ging zudem unter, dass es seit Kriegsbeginn regelmäßigen diplomatisch-militärischen Austausch 00 zwischen den Kriegsparteien gegeben hat. Dieser entwickelte sich bislang jedoch nicht zu Friedensgesprächen 00.
Sanktionen
Sanktionen haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts 00 zu einem weit verbreiteten und mächtigen außenpolitischen Instrument entwickelt. Seit 2014 und – in noch weit größerem Ausmaß – seit 2022 wurde auch Russland mit mehreren Sanktionspaketen belegt. Beurteilt man die verhängten Sanktionen anhand ihrer Effektivität, so ergibt sich ein gemischtes Bild 00. Sowohl nach 2014 als auch nach 2022 konnte Russland seine Wirtschaft nach einem kurzen, aber heftigen Einbruch wieder stabilisieren. Zwar schwächen die Sanktionen die Wirtschaft des Landes langfristig, insbesondere, da westliche Technologieimporte erschwert werden und Absatzmärkte für russische Rohstoffe unzugänglich bleiben.
Allerdings gelang es dem russischen Staat zum Teil, die als strategisch erachteten Energie- und Rüstungssektoren weniger anfällig 00 für sanktionsbedingte Lieferkettenunterbrechungen zu machen. Einige Wissenschaftler*innen 00 argumentieren daher, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland insgesamt zu schwach und zu langsam waren, um einen Politikwechsel im Kreml herbeizuführen. Der Historiker Nicholas Mulder 00 zeigt zudem, dass sich in den 1930er Jahren die Verbreitung von Sanktionen als Mittel demokratischer Außenpolitik und das Autarkiebestreben autoritärer Herrscher gegenseitig bedingten. Die Schwelle für Eroberungskriege sinke insbesondere dann, wenn ein sanktioniertes Land nicht mehr von der eigenen Integration in die Weltwirtschaft profitiere.
Propaganda
Kriege sind Hochphasen der Propaganda, Gegenpropaganda und mobilisierenden Rhetorik. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist keine Ausnahme. Die russische Propaganda zeichnet sich durch eine Mischung nationalistischer und imperialistischer 00 Elemente aus. Hinzu kommen anti-faschistische Versatzstücke 00, die als Überbleibsel des sowjetischen Selbstverständnisses auch im heutigen Russland Wirkung entfalten. Insbesondere die sowjetische Art, über den Zweiten Weltkrieg 00 zu sprechen, erklärt die für Außenstehende oft rätselhaft wirkende Bedeutung des „Kampfes gegen den Faschismus“, dem man sich dem Kreml zufolge nun auch in der Ukraine stellen müsse. Die Wirkmächtigkeit nicht nur der russischen Propaganda erklären Soziolog*innen 00 damit, dass Menschen in Kontexten, die sie als ihrem eigenen Handeln entrückt wahrnehmen, das Unwissen dem Wissen vorziehen.
Auch die ukrainische Kriegsrhetorik verunmöglicht es, zuverlässige und korrekte Informationen aus dem Kriegsgebiet zu bekommen, wobei es sich hier meist um das gezielte Zurückhalten von Informationen in Kombination mit mobilisierenden Parolen handelt.
Besatzung
Russland hat nach der Krim-Annexion Strategien der Machtkonsolidierung und Besatzung 00 entwickelt, die auch in den seit der Invasion 2022 neu besetzten Gebieten angewandt werden. Neben militärischer Gewalt versucht man auch durch Kooptation von Bürokrat*innen und Arbeiter*innen, Stabilität in den besetzten Gebieten herzustellen. Die russischen Besatzer*innen führten zum Teil neue administrative Strukturen ein. Allerdings existieren in einigen Gebieten nach wie vor ukrainische Verwaltungsstrukturen, da sich Teile der Belegschaft weigerten, mit den Besatzer*innen zu kollaborieren. Um die Kollaboration zu erzwingen, entführten russische Besatzer*innen in zahlreichen Fällen wichtige lokale Persönlichkeiten und Kommunalpolitiker*innen und folterten 00 sie.
Auch durch Bezüge zu historischen Themen sollen Kollaboration und Loyalität erreicht werden: In den besetzten Städten werden russische Nationalfeiertage eingeführt, sowjetische Lenin-Denkmäler werden wieder aufgebaut und Propagandaplakate angebracht.
Stellvertreterkrieg
Seit Kriegsbeginn diskutieren Expert*innen, inwiefern es sich bei den Geschehnissen in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg handelt. Ein Argument gegen diese Kategorisierung ist, dass der Westen diesen Krieg nicht gewollt hat und er von Russland aufgezwungen worden ist. Prinzipiell kann die Einmischung durch Dritte allerdings mittels der Bereitstellung von Ausbildung, Waffen 00, Geldmitteln und Ersatzkräften, aber auch durch den direkten Austausch von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen geschehen. So gesehen spricht einiges dafür, dass es eine indirekte Beteiligung des Westens am Konflikt gibt und er dessen Ausgang strategisch beeinflussen will. Stellvertreterkriege bergen erhebliche Risiken 00, vor denen einige Militärexpert*innen warnen. Einerseits besteht das Risiko der Eskalation. Andererseits können stellvertretende Interventionen die Dauer von Kämpfen verlängern und die Zahl der Toten erhöhen. Die Zivilbevölkerung trägt dabei die Hauptlast. Schließlich besteht das Risiko, dass Konflikte in Zukunft wieder aufflammen.
Wege aus dem Krieg
Die Debatte über mögliche Wege aus dem Krieg findet auf zwei Ebenen statt. Zum einen wird sie politisch geführt: Was sind die „richtigen“ Instrumente – Diplomatie, militärischer Druck, Wirtschaftssanktionen –, um Russland von seinem Kriegskurs abzubringen? Zum anderen legt der Krieg historische Analogien nahe, die von Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen teils kritisch, teils zustimmend diskutiert werden. Inwiefern greift etwa der Vergleich des heutigen Russlands mit der Weimarer Republik? Besteht im Falle einer russischen Niederlage die Gefahr eines noch aggressiveren Revanchismus, wie er sich in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte? Und sollte man deshalb nicht vor allem auf eine diplomatische Beilegung des Krieges setzen? Oder führt der Weg in einen stabilen Frieden lediglich über eine Erschütterung des russischen Imperialismus in Form einer militärischen Niederlage in der Ukraine? Abschließend gehören auch die völkerrechtliche Aufarbeitung der Kriegsverbrechen sowie die Vorbereitung des Wiederaufbaus der Ukraine zur Debatte um ein Ende des Kriegs.
Militärische Niederlage
Wladimir Putins Pläne, die ukrainische Regierung zu stürzen und das Land zu besetzen, haben sich aufgrund des ukrainischen Widerstands als nicht umsetzbar erwiesen. Auch der als Folge daraus abgespeckte Plan, die Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson im Süden und Osten der Ukraine vollständig zu besetzen, ist gescheitert. Stattdessen gaben die Erfolge der ukrainischen Armee bei der Rückeroberung der besetzten Gebiete zunächst Anlass für optimistische Prognosen bezüglich der Siegchancen Kyjiws. Seitdem hat sich der Krieg allerdings verstetigt, ohne dass eine Seite entscheidende Geländegewinne verzeichnen konnte. Eine Sichtweise ist daher, dass nur die Bereitstellung zusätzlicher westlicher Militärausrüstung die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine sicherstellen kann. Das schließt auch Langstreckenraketen, schwere Panzer und F-16-Kampfflugzeuge mit ein.
Demgegenüber steht die Position, dass auch diese schweren Waffen den Krieg nicht stoppen würden. Vielmehr entstünde dadurch ein Eskalationsrisiko. Denn Putin könnte, konfrontiert mit einer möglichen militärischen Niederlage, immer noch zu Atomwaffen greifen. Nach Einschätzung einiger Expert*innen 00 würden die USA und die Nato darauf nicht nuklear, sondern konventionell reagieren.
Ein Vorschlag jenseits der Dichotomie aus Sieg und Niederlage, der derzeit allerdings nur geringe Chancen auf Umsetzung hat, besteht in der Einrichtung einer sogenannten internationalen Territorialverwaltung (ITA). Hierbei handelt es sich um ein internationales diplomatisches Instrument 00, das in der Vergangenheit bereits in Kroatien oder im Kosovo, in West-Guinea in den 1960er Jahren und später in Kambodscha und Osttimor zum Einsatz kam. Eine ITA in der Ukraine wäre weniger risikoreich als eine militärische Niederlage einer nuklear bewaffneten Großmacht und würde gleichzeitig Russlands Verfügungsanspruch über die ukrainische Politik zurückweisen.
Kriegsverbrechen
Die Nichtregierungsorganisation Eastern Ukrainian Center for Civil Initiatives (EUCCI) sammelt und dokumentiert seit 2014 Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine 00. Damit sollen spätere Prozesse gegen die Täter*innen vorbereitet werden. Nachgewiesen wurden unter anderem Verbrechen russischer Soldaten in den Regionen Kyjiw, Tschernihiw, Charkiw, Cherson, Donezk und Mykolajiw, entweder während der temporären russischen Besetzung 00 dieser Gebiete oder im Zuge der Kriegführung. Die Liste der verübten Verbrechen umfasst unter anderem Folter, sexualisierte Gewalt, willkürliche Erschießungen, Misshandlungen von Kriegsgefangenen, die Zwangsvergabe russischer Staatsbürgerschaften, Deportationen und Verschleppungen, Raub und willkürliche Beschlagnahmungen, Zerstörung von Ökosystemen, gezieltes Aushungern sowie die Bombardierung von ziviler Infrastruktur und Wohnhäusern. Die Chancen, dass nach dem Ende des Kriegs die Täter*innen tatsächlich juristisch belangt werden, sind allerdings gering. Denn Russland erkennt den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht an, der neben ukrainischen Gerichten maßgeblich für zukünftige Anklagen zuständig wäre.
Verhandlungen
Zwischen Russland und der Ukraine herrscht bereits seit 2014 Krieg. Von Anfang an wurde dieser von Verhandlungen begleitet, was die Minsker Abkommen und das Normandie-Format deutlich machen. Beide Formate scheiterten letztendlich am fehlenden Willen beider Parteien 00, wobei Russland stets abstritt, selbst Konfliktpartei zu sein. Während die ukrainische Regierung mit Stand Juni 2023 auf einen militärischen Sieg setzt, weisen Kritiker*innen 00 dieser Position darauf hin, dass das Streben nach Gerechtigkeit nicht ausreiche, wenn man selbst nicht die Macht hat, diese auch durchzusetzen. Der von der Türkei und der Uno vermittelte Getreide-Deal zeige zudem, dass Verhandlungen zumindest über Einzelthemen möglich sind. Es sei demnach ungewiss, ob die beiden Kriegsparteien tatsächlich so verhandlungsunwillig sind, wie sie das öffentlich erklären. Möglicherweise könne das Themenspektrum der Verhandlungen doch noch ausgeweitet werden. Diesen Hoffnungen stehen die vielen gescheiterten Anläufe 00 einer diplomatischen Konfliktbeilegung gegenüber.
Als ein möglicher Ausweg wird von einigen Seiten vorgeschlagen, den Konflikt diplomatisch zu internationalisieren. 00 Denkbar sei die Bildung einer internationalen Koalition unter Beteiligung der Uno und der Brics-Staaten sowie eventuell der Afrikanischen Union. Alternative Modelle sehen die Einrichtung einer türkisch-brasilianisch-chinesischen oder einer rein türkischen Kontaktgruppe vor. Das Ziel jeglicher Bemühungen zur Internationalisierung müsste sein, insbesondere Russland dazu zu bringen, die Notwendigkeit von tatsächlichen Verhandlungen jenseits der Kapitulation der Ukraine zu akzeptieren. Bisher weigert sich der Kreml jedoch, die auch global destabilisierenden Konsequenzen seines Angriffs anzuerkennen.
Neutralität
Vorschläge zum neutralen Status der Ukraine kursierten bereits vor dem russischen Überfall im Februar 2022. Damals wurden diese vor allem als Zugeständnisse an Russland verstanden. Auch in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine nach Beginn des Kriegs war der Neutralitätsstatus ein Kernpunkt des diskutierten, aber nicht zustande gekommenen Friedensabkommens von Istanbul. Kritiker*innen einer ukrainischen Neutralität verweisen auf Putins Rhetorik: Diese lasse erkennen, dass er die Ukraine nicht in eine Form der Neutralität, sondern zurück in die russische Einflusssphäre und eine Position der Unterwerfung zwingen will. Weder könne eine Neutralität nach finnischem Beispiel 00 den Konflikt lösen. Noch könne dieser nach dem Express-Beitritt Finnlands zur Nato als historisches Vorbild dienen. Zudem befürworteten Mitte 2023 laut Umfragen 77 Prozent der Ukrainer einen Nato-Beitritt ihres Landes. Als Alternative zu einem langen militärischen oder eingefrorenen Konflikt wird die Neutralitätslösung 00 allerdings nach wie vor diskutiert. Diese müsste jedoch mit westlichen Sicherheitsgarantien sowie der militärischen Befähigung der Ukraine, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, einhergehen.
Europäische Friedensordnung
Viele Beobachter*innen erhoffen sich von einer russischen Niederlage 00 in der Ukraine einen innen- und in der Folge auch außenpolitischen Wandel Russlands. Betrachte man die historische Erfahrung mit Dekolonisierungsprozessen, seien derlei Rückschläge notwendig, damit Imperien ihre expansiven Ambitionen aufgeben. 00 Nur so könne eine europäische Friedensordnung mit Russland gebaut werden. Andere hingegen weisen darauf hin, dass eine Niederlage Russlands keineswegs zwangsläufig ist bzw. eher zu einem kurzen statt langen Frieden 00 führen könnte. Wie Studien zeigen, neigen Staaten, die kürzlich besiegt wurden, im Durchschnitt eher dazu, nachfolgende Streitigkeiten auszulösen. Das wäre zum Beispiel bei einer internationalen Ächtung Russlands (ähnlich wie bei Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg) der Fall. Das Risiko eines noch militaristischeren Revanchismus, so die Warnung, würde dadurch steigen. Eine russische Stunde Null (wie bei Deutschland 1945) hingegen, gefolgt von einem umfassenden politischen Wandel, würde einen militärischen Sieg der Ukraine voraussetzen, inklusive der Rückeroberung des Donbass und der Krim. Für Kritiker*innen führt der Weg dorthin jedoch über weitere Tausende Tote sowie eine nukleare Eskalationsgefahr.
Das Dilemma einer zukünftigen europäischen Friedensordnung bestehe demnach darin, einerseits Russlands Radikalisierung in Form eines militanten Neo-Imperialismus in die Schranken zu weisen und andererseits Moskau eine Nachkriegsordnung anzubieten, in der es institutionell, diplomatisch und wirtschaftlich nicht isoliert 00 ist.
Multipolare Weltordnung
Russlands Überfall auf die Ukraine hat zu einem Revival der Abschreckung als sicherheitspolitische Strategie geführt. Vielen scheint die erneute Herausbildung einer auf gegenseitige Abschreckung zielenden Weltordnung alternativlos. Gleichzeitig existieren Vorschläge, wie eine globale Ordnung realisiert werden kann, in der die USA, China und andere Großmächte kooperieren können. Lediglich eine kooperative, multipolare Weltordnung erlaube es, so das Argument, den Klimawandel zu bekämpfen, regionale Krisen zu beheben und die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen einzuhegen. Die einseitige Ausrichtung auf gegenseitige militärische Abschreckung sei hingegen nicht nachhaltig. Vielmehr müssten Staaten eine Balance zwischen Sicherheit und anderen Zielen schaffen. Ein konkreter Vorschlag besteht etwa darin, dass sich politische Entscheidungsträger*innen auf ein globales Handlungsprogramm nach dem Grundsatz „weniger Regeln, besseres Verhalten” 00 verständigen. Dessen Kern wäre die Einigung über zentrale Handlungsoptionen, z.B. politische No-Gos oder geächtete Handlungen, gegenseitige Anpassungen, unilaterale Aktionen und multilaterale Kooperation.
Wiederaufbau der Ukraine
Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn setzten die ersten Diskussionen über den Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur nach einem zukünftigen Kriegsende ein. Seitdem haben sich zahlreiche westliche Staaten verpflichtet, der Ukraine bei ihren Wiederaufbauplänen zu helfen. Eine erste, von der Bundesregierung unterstützte Expertenkonferenz zum Wiederaufbau der Ukraine sondierte im Oktober 2022 die Bereitschaft von Unternehmen, bereits während der noch laufenden Kriegshandlungen in die ukrainische Wirtschaft zu investieren.
Auf dem Tisch liegen zudem kreative, wenn auch diplomatisch heikle Vorschläge: Nach Beginn der Invasion äußerten einige russische Oligarchen wie etwa Mikhail Fridman, Oleg Deripaska oder Alexey Mordashov verhaltene Kritik am Kriegskurs des Kremls. Darin sehen manche Beobachter Spielraum für Kooperation zwischen russischen Oligarchen und der Ukraine beim Wiederaufbau nach dem Krieg 00: Die Oligarchen könnten durch Beteiligung an den ukrainischen Wiederaufbauplänen möglicherweise auf die Aufhebung der gegen sie verhängten Sanktionen hoffen, während es dem ukrainischen Staat so ermöglicht würde, zumindest einen Teil der für den Wiederaufbau notwendigen Kosten aufzubringen. Eine solche Zusammenarbeit würde jedoch nur funktionieren, wenn sich die beteiligten russischen Oligarchen gleichzeitig in Russland aktiv und öffentlich gegen den Krieg positionieren.
Mit Kanal und Diskurs-Hub haben wir unser Ziel erreicht, einen Kanon an Perspektiven und Denkmodellen zu kuratieren, um die Katastrophe des Krieges zu begreifen. Wir haben uns große Fragen gestellt, u.a. nach den Ursachen des Kriegs, nach Reaktionen der internationalen Akteure, nach Wegen aus und nach Neuordnungen durch den Konflikt. Dabei streiften wir durch die verschiedensten Disziplinen, Denkschulen und politischen Lager – immer auf der Suche nach fundierten und diskussionswürdigen Standpunkten und Studien. Der im Kanal festgehaltene Korpus ist weder vollständig noch erschöpfend – das soll er auch nicht sein! Aber er ist eine Ressource, vollgepackt mit zentralen Schlaglichtern, mithilfe derer man sich innerhalb kurzer Zeit in die Diskurse vertiefen und mit Kontroversen vertraut machen kann. Dafür möchten wir allen Beteiligten danken. Den fleißigen Redakteurinnen, den umtriebigen Kuratoren, den uns wohlgesinnten Gastbeitragenden und allen, die im Hintergrund mit angepackt haben: Technik, Design, Projektmanagement. Nicht zuletzt danken wir auch dir, lieber Leser, liebe Kommentatorin. Denn durch deine Impulse und durch dein Interesse wird der Kanal erst so richtig relevant.
Und weil das Thema noch nicht auserzählt ist, knüpfen wir gleich mit einem neuen Kanal daran an: In Umbruch | Krieg | Europa wollen wir unseren Blick weiten und über die Grenzen der Ukraine bzw. Osteuropas hinaus schauen. Es wird darum gehen, welche bleibenden Auswirkungen und Umordnungen der russische Angriffskrieg auf die Ukraine für Europa und die Weltgemeinschaft nach sich zieht und wie wir mit diesen umgehen.